Interview: Julia Shporina

Julia Shporina ist neu im Vorstand des Aachener Netzwerks und eines unserer aktivsten Mitglieder. Zwei gute Gründe, sie im Rahmen eines Interviews ausführlich vorzustellen.

Helmut Hardy (HH): Hallo Julia, du bist 43 Jahre alt, Ukrainerin und Mitglied beim Aachener Netzwerk. Wo bist du geboren und wie bist du nach Deutschland gekommen?

Julia Shporina (JS): Ich bin mit 14 nach Deutschland gekommen. Geboren bin ich in der Ukraine, in Kalusch. Von dort stammt auch die Band Kalush, die 2022 den Eurovision Song Contest gewonnen hat. Darauf bin ich auch etwas stolz, denn sonst würde wahrscheinlich keiner diese Stadt kennen.

Ich bin mit meinen Eltern als Kontingent­flücht­ling nach Deutschland gekommen, nicht als Kriegsflüchtling. So blieb mir erspart, was meine Landsleute heute alles erleben. Wir sind zwar denselben Weg gegangen, also diese Lager, ohne Sprache in einem fremden Land, das ist schon sehr, sehr schwierig, aber Gott sei Dank ohne diesen Kriegshintergrund. Wir hatten aber wohl keine ehrenamtlichen Helfer, so wie jetzt, und wir hatten kein GoogleTranslate. Es war ziemlich anstrengend. Kontingentflüchtlinge haben eine jüdische Abstammung und durften deshalb nach Deutschland ausreisen. Meine Eltern haben sich für Deutschland entschieden, weil es näher zur Ukraine ist als andere Länder. Andere Teile der Familie konnte nicht ausreisen, und so können wir sie leicht besuchen.

HH: Du bist verheiratet. Wo hast du deinen Mann kennengelernt?

JS: Ich hab meinen Mann während des Studiums kennengelernt. Als wir uns unterhalten haben, haben wir festgestellt, dass wir tatsächlich nur 30 km voneinander entfernt geboren sind. Und da hab ich mir gedacht: Oh, das ist Schicksal. Egal wo du bist, du hättest ihn sowieso kennengelernt. Ob du zu Hause wärst oder hier. Der liebe Gott hatte für uns einen Plan (lacht). Ich bin halt Romantikerin.

HH: Du hast eine Tochter und bist auch berufstätig?

JS: Ja, meine Tochter Hanna ist mittlerweile 3 Jahre und 8 Monate alt. Bis vor Kurzem war ich bei einer Zeitarbeitsfirma teilzeitbeschäftigt. Auch dort konnte ich ukrainischen Flüchtlingen helfen. Also den Weg aufzeigen, wie man hier Fuß fassen kann, Lebensläufe erstellen, in der Berufswahl beraten und ähnliches. Das ist für sie im Moment sehr wichtig, weil es zwei unterschiedliche Länder sind, die sich teilweise stark unterscheiden. Das Steuersystem ist anders und auch das Arbeitssystem. Eigentlich bin ich von Beruf Dolmetscherin und in beiden Sprachen zuhause, so dass ich den Ukrainerinnen und Ukrainern alles in ihrer Sprache erklären kann.

Und auch nach Feierabend übersetze ich viel. Mal am Telefon, mal bei einem Termin bei Behörden.

HH: Klingt nach einem vollen Tag. Woher nimmst du Zeit und Motivation für dein ehrenamtliches Engagement?

JS: Ich muss wohl sagen, ohne meinen Mann, der auf meine Kleine aufpasst, wenn ich mal sehr dringend zu einem Termin muss, hätte ich das niemals geschafft, würde ich das niemals schaffen. Er ist eine enorme Unterstützung für mich. Oft nehme ich die Kleine auch mit. Viele kennen mich nur zusammen mit ihr. Früher im Kinderwagen in der Kleiderkammer im Depot, heute mit ihr an der Hand.

Ich muss mir die Zeit nehmen. Es ist meine Pflicht, meine Landsleute zu unterstützen und ihnen das Gefühl zu geben, dass sie weiter kommen. Man muss sie auffangen, weil die Menschen durch den Krieg sehr geschädigt sind. Man muss sehr sensibel sein. Ich bekomme auch immer wieder Anfragen nach Hilfe durch Psychologen. Ich kann es vollkommen nachvollziehen, die Kinder haben soviel Schlimmes gesehen Ich kann es verstehen, die Mütter sind verzweifelt und ich wäre ungern an ihrer Stelle. Ich kann es nachfühlen und deshalb nehme ich mir einfach diese Zeit. Das ist mein Volk, ich muss sie schützen und ihnen helfen, das ist einfach meine Pflicht und ich muss diese Aufgabe einfach bewältigen. Ich schaffe das auch, egal wie.

HH: Der 24. Februar 2022 war ein Donnerstag. Wie hast du ihn erlebt?

JS: Ich bin wach geworden und mein Mann hat mir gesagt: „Die Russen haben uns angegriffen, wir haben Krieg“. Ich konnte es überhaupt nicht fassen, ich wusste überhaupt nicht, wie soll ich das Ganze auffassen, ist das jetzt ein Tag, ist das zufällig, ist das ein Fehler im Programm, wird das jetzt aufhören. Ich fand es so unglaublich, es hat mich einfach gelähmt. Ich musste erstmal richtig wahrnehmen, dass es ernst gemeint ist, dass es tatsächlich ein Krieg ist, ich war sowas von geschockt, weil ich hab niemals gedacht, wie der Russe sagt, wir sind ein Volk, Bruder und Schwester, dass die uns angreifen, und ich hab direkt überlegt: Was kann ich tun, wie kann ich helfen? Das war eine Katastrophe für mich; die Welt ist zusammengebrochen. Ich hab nur geweint.

Ich hab die Welt überhaupt nicht mehr verstanden. Und habe mich dann zusammengerissen und habe gesagt, du musst dir jetzt was überlegen, wie du das Ganze öffentlich machst, damit die Leute verstehen, das ist tatsächlich ein Krieg und wir brauchen Hilfe von außen. Und es kann nicht sein, dass die Russen uns jetzt angreifen. Ich hab überall in den Medien gesucht nach Informationen auf meinen Kanälen, fb, insta und es öffentlich gemacht und hab überall nach Hilfe geschrien.

HH: Und dann ging es los?

JS: In Aachen wurde eine Versammlung auf dem Katschhof angekündigt. Pulse Of Europe hat diese Versammlung auch unterstützt. Wir haben uns dann alle auf dem Katschhof versammelt. Da habe ich dann meine Freunde gesehen und Leute, die auch Ukrainer sind. Dort habe ich auch den jungen Mann gesehen, der das Geschäft neben dem Haus hat, wo meine Eltern wohnen. Und ich weiß ganz genau, dass es ein Computergeschäft ist, wo sehr selten Leute kommen. Ich bin dann zu ihm gegangen und hab gesagt: pass mal auf, du bist doch auch Ukrainer, wir müssen da was machen, wir können da nicht einfach so stehen und zusehen, wie die uns kaputt machen. Wir müssen sammeln, wir müssen Güter sammeln, die wir direkt zur Ukraine schicken, damit die Menschen was zum Essen, damit sie was zum Anziehen haben, Medizin, alles, was uns die Leute geben, Decken, Kissen, alles mögliche. Dann hat er gesagt: das ist kein Problem, können wir machen. Wir hatten wirklich Glück, denn neben dem Geschäft war eine Studentenverbindung und ein russisch sprechender junger Mann, Spätaussiedler, hat angeboten, in deren Räumlichkeiten ein Lager zu errichten. Und da ich überall in den Medien veröffentlicht habe, dass wir ein Lager haben, dass wir Spenden sammeln, haben sich sehr viele gemeldet und es sind sehr viele gekommen. U.a. die freiwillige Feuerwehr aus Simmerath, die haben bestimmt drei, vier Wagen voll mit Gütern mitgebracht. Wir haben nicht geschafft, das alles zu sortieren. Ich habe dann einen Chat eröffnet, wo ich Helfer gesucht habe, ständig, die mit sortiert haben. Ich habe mir das abgeguckt bei Maryna aus Düsseldorf, mit der ich sehr gerne und eng zusammen arbeite. Die hat das in Düsseldorf organisiert, eine tolle Frau. Eine Volontär aus Aachen hatte in Düsseldorf mit geholfen und hat uns in Aachen dann gezeigt, wie sie dort sortiert haben. Wir haben dann gesammelt und gesammelt und sortiert, irgendwo wurden irgendwelche LKWs organisiert, und wir haben das hingebracht, einfach, damit die Leute das transportieren, dann die ganzen Kontakt­personen, die in den Medien hörten, das wir das transportieren, Aufrufe und Suche und dann hab ich weitergeleitet, zu den LKWs, wenn die irgendwo außerhalb Aachens standen und warteten, um beladen zu werden.

So hat es angefangen, und es war ziemlich heftig. Jeden Tag haben sich unbekannte Menschen bei uns gemeldet. Ich mit Kind auf dem Arm, damals war die Kleine zwei Jahre und zwei Monate, da war die noch im Kinderwagen. Diese Zeit war ziemlich schwer, täglich erreichten mich tausende schreckliche Nachrichten, ich musste das machen, ich konnte nicht schlafen, ich konnte nicht anders.

Nachts hab ich vermittelt, Leute zusammen gebracht. Unsere Volontäre waren überall in Polen und in Deutschland und haben organisiert, wie die Flüchtenden fahren können und wo sie aufgenommen werden können. Sie haben Essen und Getränke beschafft und die Möglichkeit, das Handy aufzuladen…

Und tagsüber habe ich Spenden angenommen und organisiert, wie sie in die Ukraine kommen.

HH: Zuerst hast du Hilfe für die Ukraine organisiert, dann Hilfe für Ukrainerinnen in Aachen. Wie kam es zu dem Wandel?

JS: Bald kam die erste Welle von Flüchtlingen nach Aachen. Diese armen Frauen und Kinder, die standen da und haben gar nichts gehabt. Und als ich das gesehen habe, ich bin fast wahnsinnig geworden, weil ich genau wusste, wie teuer die Pampers sind, ich hab ja selber ein Baby, wie hilflos und verloren die Augen der Mütter sind. Und wir hatten Babysachen, Pampers, Pflegesachen – verpackt für die Ukraine. Da hab ich gesagt: Stopp, wir schicken nichts mehr in die Ukraine! Wir öffnen alle Kartons und geben das den Frauen. Die sollen alles nehmen, was sie brauchen, die haben gar nichts, weder Shampoo noch Pampers für die Kinder noch Klamotten. Wir müssen das alles hier verteilen. Die sind hierher gekommen ohne alles und die Stadt schafft es nicht. Ich sah, dass sich so viele Leute um die Ukraine kümmern und Sachen dahin schicken. Aber wir wollten uns jetzt auf die Flüchtlinge hier in Aachen konzentrieren. Das war für mich klar, dass wir uns jetzt um die Menschen, die hier sind, kümmern müssen. D.h. übersetzen, hingehen, wo sie Hilfe benötigen, erklären, wo man hingehen muss, was man machen muss, was man alles beantragen kann, also das war die richtige Entscheidung für mich.

HH: Wie kam es dann zur Zusammenarbeit mit der Stadt Aachen?

JS: Die Stadt, so war mein Eindruck, war überfordert mit den vielen Frauen mit Kindern, die nach Aachen kamen.

Eine Ukrainerin aus Lviv, die gesehen hat, was ich alles gemacht habe, lebte in einer Turnhalle. Die Aachener Oberbürgermeisterin Sibylle Keupen hat dort hospitiert und die Ukrainerin hat ihr von mir erzählt. Frau Keupen hat mich dann um ein Treffen gebeten. Dabei hat sie mir von dem Plan erzählt, im Depot ein ukrainisches Zentrum aufmachen, und mich gefragt, ob ich nicht meine Kleiderkammer dorthin umsiedeln möchte. Das war für mich eindeutig die beste Lösung, weil die Studenten langsam ihre Räumlichkeiten und ihre Ruhe zurück haben wollten. Die mussten ja langsam lernen für ihre Prüfungen. Und im Depot, da sind wir auch besser versorgt, da gibt es Toiletten, da gibt es Wasser, da können die Leute auch eine Beratung bekommen.

An dem Wochenende hat die Aachener Feuerwehr dann mein Lager umgezogen. Ich hab das alles gefilmt und irgendwann werde ich darüber ein Buch schreiben.

HH: Was hat dich im Rahmen deiner Hilfstätigkeit besonders bewegt?

JS: Eine Mutter mit zwei kleinen Kindern, den Tränen nahe, fragte mich nach einer Packung Pampers. Sie hatte nur einen kleinen schwarzen Rücksack auf dem Rücken. Als ich fragte, ob das alles sei, was sie dabei habe, sagte sie den schrecklichen Satz: „Jeder Platz im Bus ist ein Leben.“ Sie durften nichts mitnehmen… und sind teilweise tagelang geflüchtet, bis sie sie in Aachen angekommen sind. Dieser eine Satz sitzt ganz tief in mir…

HH: Es war im Juli 2022, als unsere gemeinsame Freundin Nasim mit dir zu mir kam. Was hat Nasim bewogen, uns bekannt zu machen?

JS: Nasim hat dich, Helmut, und mich bekannt gemacht, weil sie gesehen hat, dass ich viel zu viel im Alleingang mache. Sie hoffte wohl, dass du verhindern würdest, dass ich mich so überfordere. Und dass du mich unterstützen würdest, damit ich es leichter habe.

Schließlich schafft man mehr, wenn eine Organisation hinter einem steht! Was auch stimmt…

HH: Danach haben wir einige Sachen zusammen auf die Beine gestellt. Wie ging es los?

JS: Die erste große Aktion war, eine Nikolausfeier für Kinder zu organisieren. Das Aachener Netzwerk hat einen Zuschuss bei der Stadt beantragt und wir haben dafür Geschenke für die Kleinen gekauft. Bei der Feier passierte ein echtes Wunder. Ein 5jähriges ukrainisches Mädchen, das seit den schrecklichen Erlebnissen in der Ukraine nicht mehr geredet hat, legte einen Auftritt für den Nikolaus hin und sang los, als ob sie nichts anderes gemacht hätte. Ihre Oma hat laut „Was für ein Weihnachtswunder!!!“ gerufen und vor Glück geweint.

HH: Wir haben auch Hilfsgüter in die Ukraine geschickt…

JS: Das Hospiz und Seniorenzentrum Haus Hörn hat Rollstühle und Gehhilfen für uns gesammelt. Und es geht nichts über Nachbarschaftshilfe und gute Kontakte!!! Renate Roben meine gute Nachbarin – hat zwei Minibusse mit Medizinmaterial besorgt. Und wir haben mit unseren Partnern dafür gesorgt, dass alles in die Ukraine kommt.

HH: Woran erinnerst du dich besonders gerne?

JS: Besonders gerne erinnere ich mich an einen Konvoi von 18 Rettungswagen, diese wurden in England von Spendengeldern gekauft und in die Ukraine geschickt. Maryna Schiefer hat es alles mit ihrem Team organisiert. Die Rettungswagen wurden unter anderem auch in Aachen mit unseren medizinischen Geräten aus unserem Lager beladen. Dabei habe ich und zahlreiche andere Helfer kennen gelernt – tolle Menschen!!!

Das Lager haben wir dank Tatyana Lutsyk und Andreas Funke (damals Seelsorger im Vikariat) gefunden worden. Und zu unserem Glück war es voll mit medizinischen Geräten!

HH: Noch mehr?

JS: Es gibt mehrere wahnsinnig wichtige Hilfsaktionen, die in die Geschichte eingehen sollten!!! Wie der Kauf von Trinkwasser­aufbereitungsanlagen. Durch den russischen Beschuss und auch durch die Zerstörung des Kachowka-Staudamms gibt es im Osten und Süden der Ukraine kaum Trinkwasser. Dank unserer Spender*innen konnten wir 4 Trinkwasser­aufbereitungsanlagen kaufen, in die betroffenen Gebiete bringen und so tausenden Menschen helfen!!!

Das macht mich wahnsinnig stolz!!!

HH: Du bist ja kaum zu bremsen…

JS: Und diesen Winter, wo wir eine Brennstoffbrikettieranlage gekauft haben. Wir haben sehr schnell entschieden, das Projekt zu machen. Wir haben schnell das Geld besorgt – und hier nochmal Danke an unsere Spender*innen. Wir haben schnell entschieden, die Anlage zu bestellen. Schnelligkeit und Flexibilität sind unsere Stärke. Aber dann hat es fast 3 Monate gedauert, bis der Vertrag unterzeichnet werden konnte. Das hat mich wahnsinnig gemacht. Aber nun ist es so weit und bald kann die Produktion beginnen. Dann gibt es Material zum Kochen und Vorräte an Brennstoff für den nächsten Winter. Gregory hat da eine unglaubliche Ausdauer gezeigt.

Wir sind da, wo wir gebraucht werden!!!

HH: Seit 1½ Jahren bist du Mitglied im Aachener Netzwerk. Nun bist du in den Vorstand gewählt worden. Was denkst du, was wir gemeinsam schaffen können? Was sind deine Pläne?

JS: Das Wichtigste für mich ist, dass wir den Krieg gewinnen und die Ukraine befreit wird.

Dann würde ich gerne aus dem Lauf Flame for Peace ein Ereignis machen, worüber die ganze Welt spricht. Ein Lauf für den Frieden in der ganzen Welt, bei dem sich unzählige Länder anschließen und parallel zu uns laufen. Das wäre mein Traum.

HH: Ein tolles Schlusswort. Danke für das Gespräch.

JS: Ich bedanke mich auch.