Ein rosa Luftballon

Ein rosa Luftballon, Corona und die Macht der kleinen Leute

Bihać/Dortmund (dpl)
Mein Hund stupst mich mit der Nase an. Es ist schon hell. Ich schrecke hoch, habe brutal verschlafen. Viel zu spät für all das, was zu tun ist! Jetzt erst sehe ich, wo ich bin. Das Licht ist anders. Ich bin nicht mehr in Bihać. Ich bin in Dortmund. Viel zu früh, für all das was ich jetzt nicht tun kann. Während ich noch wach werde, sehe ich wieder die Augen hinter dem rosa Luftballon.

Nur kurz, aber ich sehe sie jeden Tag. Und jedes Mal wird es ganz ruhig in mir. Die Zeit bleibt stehen, für ein paar Sekunden. Schon klingelt das Telefon. „Was gibt‘s?“, fragt Zlatan.

Mein Freund ist in Bihać, ich in Dortmund. Trotzdem arbeiten wir gemeinsam. Als ich Bihać verlassen habe, hat er gesagt: „Geh, ich verstehe das, du musst.“ Das war am 14. März, zwei Tage bevor die Grenzen geschlossen wurden. In Deutschland sind meine Kinder, Enkelkinder, Geschwister und Eltern. Die Entwicklung war nicht absehbar. Ich wollte nicht in Bosnien festhängen, wenn es zu größeren Problemen in Deutschland kommt. Also bin ich nach neun Monaten für unbestimmte Zeit zurückgefahren. Nach zwei Wochen Quaran­täne folgte der Corona-Test: negativ. Wegen der körperlichen Nähe bei der Behandlung von Flüchtlingen konnte ich nicht sicher sein. Erst vor kurzem habe ich fünf Tage als Sani am Bahnhof in Tuzla gearbeitet und hatte sicher um die 400 Patienten in unserem Anhänger sitzen, während Zlatan und das Team von SOS Bihać die Flüchtlinge in Bihać versorgt haben. Dank des vom Aachener Netzwerk finanzierten Lada Niva Allrad ist die „getrennte“ Arbeit seit dem Winter möglich.

Jetzt beginnen die Tage deutlich später. Jetzt finde ich mich morgens in Dortmund wieder. Jetzt muss ich nicht mehr einkaufen fahren für Hunderte Menschen, eitrige Löcher in Körpern versorgen, nachts Holz in die Berge fahren oder Kindern rosa Luftballons aufpusten. „Ich muss nicht“ ist falsch. Ich darf nicht, ich kann nicht. Zlatan ist jetzt vor Ort auf sich allein gestellt. Gerade als ich Bosnien verlassen musste, wurde SOS Bihać als humanitäre Organisation in Bosnien anerkannt.

Lada Niva
Der Lada Niva des Aachener Netzwerks im Einsatz

Seitdem hat das Team in Bihać viel geschafft. Täglich werden bis zu 200 Menschen in den Spots (illegale Camps) versorgt. Dazu kommt die medizinische Versorgung, wenn die Sanitäter des Teams dabei sind. Außerdem haben wir etwa 1000 selbstgenähte Masken (vier Stück für 1 Euro) kostenlos an Flüchtlinge und die Bevölkerung von Bihać verteilt. Zlatan erzählt lachend: „Jetzt sehen sie gleich aus, unsere Bosnier und die Flüchtlinge“. Das ist gut und steht ja auch für etwas. Das gehört zu den unsichtbaren Dingen unserer Arbeit: Wir bringen Menschen zusammen. Merim Mulalic ist Schüler, 19 Jahre jung und hatte nie Kontakt mit „Migranten“. Seit ein paar Monaten ist er Freiwilliger von SOS Bihać. Die Sanitäter und ich haben ihm die Basisdinge vermittelt. Die Schule ist geschlossen. Merim ist täglich mit Zlatan unterwegs. Wenn er die Wunden der vielen Schmutzinfektionen verbindet, dann trägt er eine Schweißermaske (Plexiglasscheibe vor dem Gesicht), Ganzkörperanzug, eine Maske und Handschuhe. Aladin Hrkic, Rettungs­sanitäter im Krankenhaus von Bihać, hat einen festen Job. Er kann nur in seiner Freizeit helfen. Merim lernt von ihm. Und Merim geht nach Hause und er spricht mit Freunden. Jetzt kann er erzählen, wie es wirklich ist, das mit den „Migranten“. „Keiner von uns hat bisher ein Messer in den Bauch bekommen, ist bestohlen oder sonst irgendwie angegangen worden. Keine der Helferinnen ist je belästigt worden. Das sind Menschen, ganz normale“. Das passt nicht in ihr Bild, das viele Bosnier von den Flüchtlingen haben. Es ist wichtig, dass Menschen anderen Menschen das ganz einfach mal erzählen. Es ist auch wichtig, dass wir nicht „Flüchtlingen“ helfen oder Bosniern. Wir helfen Menschen. So langsam scheint das in Bihać auch verstanden zu werden. Zlatan und das Team haben Masken und Handdesinfektionsmittel in der Fußgängerzone verschenkt. Auch in der Polizeiwache waren sie und haben die Beamten versorgt. Das TV war dabei. Bis heute bekommen wir beide Morddrohungen über soziale Medien. Auf der anderen Seite verstehen immer mehr Menschen in Bihać, was wir tun und finden das gut. Es beginnt, sich die Waage zu halten. Das ist vielleicht die beste Nachricht der letzten Wochen.
Zlatan kann wegen seiner neuen Beinprothese Schaltwagen fahren. Mit dem Lada fährt er nun wieder in das Plesevica-Gebirge und sucht Menschen. Jetzt brauchen wir nicht mehr befürchten, von der Grenzpolizei erwischt zu werden. SOS Bihać ist die einzige Organisation, die mit dem OK der Grenzpolizei der Kroaten und der Bosnier die Grenzregion befahren darf. Das ist großartig. Wir wissen, wie es den zurückgepushten Flüchtlingen in den Wäldern geht. Den Winter über haben wir fast täglich Menschen gefunden und versorgt. Bis zu 30 Kilometer tief im Wald, ohne Nahrung und Wasser, dann die Kälte. Meist wurden sie von der kroatischen Polizei beraubt und geschlagen. Irgendwann wurde uns verboten, im Gebirge zu helfen. Dann seien wir „Schlepper“. Zlatan ist hartnäckig, sowohl in den Verhandlungen als auch bei der Suche. Ohne diesen „Biss“, mit dem er lebt, würde er heute wohl nicht so aufrecht stehen. Nicht mit seiner Geschichte. Er selbst sagt, es sei alles gut so, auch das mit seinem Bein. Sonst wäre er ja heute nicht dieser Mensch. 15 Jahre alt war er und es war die erste Granate, die seine Stadt getroffen hat.

Wir helfen der Stadt, die Stadt hilft uns. Zlatan hat die Zusage des Bürgermeisters, dass SOS Bihać im neuen Camp Lipa arbeiten darf. Die Menschen, die dort landen werden, haben keine Lobby. Außerdem werden sie versuchen von dort in die EU zu gelangen. Die Pushbackproblematik und die Situation der Menschen im Gebirge wird also bestehen bleiben, in sich verändernden Ausmaßen. Es ist wichtig, dass neutrale Beobachter in Lipa sind und auf Mängel hinweisen oder diese Probleme gleich selber lösen.

Bisher hatte ich die berechtigte Befürchtung, dass Lipa ein Vucjak 2.0 wird. Der Stand der Dinge scheint positiver. Der Bürgermeister ist federführend, IOM (Internationale Organisation für Migration) wird Lipa leiten und organisieren. Die medizinische Versorgung soll wohl DRC (Danish Refugee Council) übernehmen und die Versorgung mit Lebensmitteln die bosnische Organisation pomozi.ba. Das rote Kreuz in Bihać ist offenbar komplett raus. Es soll Strom, Wasser, Kanalisation und 50 Toiletten geben. Geplant ist es für 4000-7000 Menschen. In diesen Tagen sollen die Flüchtlinge aus Bihać dorthin „gebracht“ werden. Pomozi.ba kenne ich aus Sarajevo. Die machen einen guten Job. Wir wissen nicht, was kommt. Zu den „Herausforderungen“, die wir im Normalfall jetzt vor uns haben, kommt nun noch Corona dazu. Bis zu 7000 Menschen in einem Camp…

Was auch passiert, wir werden in Situationen kommen, in denen wir auf größere Gruppen stoßen, die in der Grenzregion umherirren. Lipa liegt 30 Kilometer außerhalb von Bihać. Damit erweitert sich unser Arbeitsradius deutlich nach Süden. Wir werden also auf große Gruppen stoßen, die zurück gepusht wurden. Verletzte sind zu erwarten. Deshalb arbeiten wir auf einen Transporter zu, einen kleinen Bus. Damit würde das gehen und wir könnten eine Trage für den Liegend-Transport einbauen. Ein VW wäre gut, weil die Versorgung mit Ersatzteilen aus gebrauchten Autos in Bosnien kein Problem ist. Wir müssen uns in die Lage bringen, mehr Menschen transportieren zu können. Als legale Organisation dürfen wir das jetzt. Dann ist es möglich, dass ein Fahrzeug im Gebirge unterwegs ist, das andere in Lipa.

Seit etwa zwei Wochen dürfen Flüchtlinge ihre Camps und Spots in Bihać nicht mehr verlassen. Alle Freiwilligen aus dem Ausland sind abgezogen. An einigen Supermärkten in der Stadt hängen Schilder, die sagen, dass der Zutritt für „Migranten“ verboten ist. Die Menschen haben Hunger. Wie bekommen wir nun Lebensmittel zu den Menschen, die zum Beispiel in der alten Fabrikhalle in Bihać leben müssen? Julie Brustmann sitzt in Quarantäne in Hamburg, sie war mehrmals in Bihać und heißt bei uns die „Suppen-Julie“, weil sie täglich 40 Liter warme Suppe im Auto hatte. Julie ist per Facebook und WhatsApp in Kontakt mit Menschen in der Fabrik. Einer ist der Hauptkontakt, der Julie und Zlatan persönlich bekannt ist. Der Hauptkontakt organisiert von zehn Räumen jeweils eine Person. Macht elf Personen, die zu einem verabredeten Ort in der Nähe der Fabrik kommen. Zlatan und Merim laden mit dem Lada Niva elf Pakete Lebensmittel für je zehn Personen ab und fahren sofort wieder. Gruppenbildung ist wegen Corona verboten. In der Fabrik können sie auf unseren Öfen oder dem Feuer selbst kochen. Die elf Personen gehen zurück und teilen mit den etwa sechs bis zwölf Personen pro Raum. So haben etwa 100 Menschen etwas zu essen und einige schicken Julie ein Feedback. So wissen wir, dass alles glatt läuft. In Wien sitzt der Künstler Arye Wachsmuth und koordiniert die Hilfe aus Österreich. In Solingen ist es der Verein „Solingen hilft“, der uns unterstützt hat und als Back-up da ist, falls es finanziell brennt. Fillis in Wien hat einen Facebookflohmarkt initiiert. Die Einnahmen bekommt SOS Bihać. Helmut Hardy und das Aachener Netzwerk sind nicht mehr wegzudenken. Sascha Severa macht in der Schweiz die social-media-Arbeit für SOS Bihać und organisiert Sachmittel, die wir brauchen. Es sind noch einige mehr. Das ganze Netzwerk ist entstanden auf und aus der Müllhalde Vucjak, aus dem Team Vucjak, das sich aus Freiwilligen aus fünf Nationen zusammensetzte. Zlatan war einer unserer bosnischen Helfer. Heute ist er die treibende Kraft. Ich versuche nicht zu sehen, was wir nicht schaffen. Ich versuche zu sehen, was wir alle gemeinsam schaffen. Das ist eine ganze Menge.

Mädchen mit Wasserflasche
Hier in Dortmund brauche ich die rosa Luftballons nicht. Ich sitze am Schreibtisch, telefoniere mit Helmut, Zlatan, dem Spiegel, dem Deutschlandfunk und einer Frau, die sich entschuldigt, weil sie nur 20 Euro spenden könne. Aus Sachsen ist sie. Sie kümmert sich um eine afghanische Familie. So viele kleine Leute… Macht kommt von „machen können“.
Irgendwann in dieser Zeit in Vucjak war ich, wie so oft, in einem der großen Supermärkte, um Bananen usw. für die Ambulance-Patienten zu kaufen, also kistenweise. In einem kurzen Augenblick griff ich in ein Regal und kaufte gleich fünf Pakete mit je 20 rosa Luftballons. Der kurze und beiläufige Gedanke war, den Kindern, die mit ihren Eltern auf den Landstraßen Richtung Europa unterwegs sind, etwas mehr geben zu können. Etwas kleines, Süßes für ein Kind, nicht „nur“ das Not­wendigste. Schokolade natürlich auch, aber ich wollte eine Kleinigkeit mehr. Auf dem Weg von meinem Apartment hoch nach Vucjak waren oft Familien unterwegs. „Game“ nennen sie das, der Versuch über die Grenzen zu kommen. Gerade im Sommer haben mir manche Kinder schwere Wasserkanister aus den Händen gerissen. Schlimme Situationen gab es. Irgendwann traf ich wieder eine Familie mit drei Kindern, alles Mädchen. Etwa vier bis acht Jahre alt. Ich habe keine Fotos gemacht. Ich habe mir auf die Zähne gebissen. Ich weiß ja, was sie vor sich haben. Ich ahne, was sie hinter sich haben. Wenn ich in solchen Momenten an meine Töchter oder Enkel denke, dann ist es sofort vorbei. Das darf ich nicht. Die Familie kommt aus Syrien. Ich griff in meinen Rucksack, um wieder einen der rosa Luft­ballons herauszufischen. Es war der Letzte von 100. Ich puste Luft hinein, reiche ihn dem Mädchen vor mir, sie greift zu. Hinter dem Luftballon sehe ich in ihre großen lächelnden Augen. Die Zeit bleibt stehen. Das Bild legt sich langsam und bleibt. 100. Das Unsichtbare in dieser Art von Arbeit ist wieder da. In 10 oder 20 Jahren wird vielleicht irgendwo auf dieser Welt eine junge Frau zufällig einen rosa Luftballon sehen und sie wird an etwas denken, von dem sie in ihren Erinnerungen nur verschwommene Bildbruchstücke findet, aber auch eine emotionale Erinnerung. Von diesem Augen­blick bleibt etwas Warmes, mensch­liches. Das ist das eigentlich Wichtige. Vielleicht ist das so?

„Blast from the past“, Explosion aus der Vergangenheit, so nennt das Larissa. Sie lebt in der Nähe von New York. Sie war 17, als ich sie in einem Flüchtlingslager in Kroatien kennen lernte. Larissa sagt, das sei so, das mit den Erinnerungen. Ich habe ihr vor 27 Jahren in diesem Dreckloch von Camp eine Jacke geschenkt. Die hängt bis heute in ihrer Wohnung.

Danke von Herzen an das gesamte Team des Aachener Netzwerks für Eure Hilfe und Euer Vertrauen für und in unsere Arbeit.
Gemeinsam werden wir hoffentlich noch viel Gutes in Bewegung bringen.

Dirk Planert