EU – Millionen für die Unmenschlichkeit

Pressemitteilung

– Letztes Flüchtlingslager soll kommenden Mittwoch geschlossen werden –

Menschen landen mit Wintereinbruch auf der Straße und in den Wäldern
Bihac / Bosnien. 1400 Flüchtlinge sind seit dem Sommer im Camp Lipa 30 Kilometer südlich von Bihac untergebracht. Die Internationale Organisation für Migration (IOM) will das Camp am 16. Dezember räumen. Das Lager auf dem freien Feld ist nicht winterfest und verfügt weder über Strom- noch Wasseranschlüsse. Das improvisierte Zelt-Camp sei für die Unterbringung von Menschen im Winter völlig ungeeignet, sagt der IOM-Chef in Bosnien, Peter van der Auweraert.
Im Kanton rund um Bihac gab es bis Ende September fünf Camps, die alle von der IOM betrieben wurden. Zuerst wurde das größte Camp (Bira) mit einer Kapazität von etwa 2000 Menschen von der Stadt geschlossen. Das Miral-Camp in Velika Kladusa wird immer leerer, weil die bosnischen Behörden neue Aufnahmen verhindern. Sollte Lipa am kommenden Mittwoch, wie zu befürchten, tatsächlich ebenfalls geschlossen werden, gibt es im gesamten Kanton nur noch zwei kleine Camps mit einer Kapazität von zusammen 800 Menschen. Diese sind Familien und allein reisenden Minderjährigen vorbehalten.
Insgesamt werden dann ab kommenden Mittwoch mindestens 3500 Flüchtlinge und Migranten in den Wäldern und Ruinen in und um Bihac versuchen, die Winternächte zu überleben.
Das ist umso unverständlicher, wenn man weiß, wieviel Geld die EU im Blindflug an die IOM und an die Regierung in Sarajevo „überwiesen hat“. Nach unseren Recherchen geht es dabei allein für die IOM seit 2018 um 85,5 Millionen Euro für Migrationsmanagment in BiH, „einschließlich 10,3 Millionen Euro für humanitäre Hilfe“. 25 Millionen Euro davon sind im Oktober zugesagt worden und sollen in Kürze fließen. 25 Millionen Euro für den Betrieb von zwei kleinen Familiencamps in Bihac und zwei weiteren etwas größeren Camps für Männer in Sarajevo! Mehr Camps hat die IOM ab Mittwoch in BiH nämlich nicht mehr.
Quelle für diese Summen ist Oliver Varhelyi, EU-Kommissar für Erweiterung und Nachbarschaftspolitik. Varhelyi ist der Vertreter Ungarns in Brüssel. Hinzu kommen seit 2016 insgesamt 552,1 Millionen Euro bilateraler IPA-Mittelzuweisungen (Vorbeitrittshilfen, durch die Reformen von EU-Beitrittskandidaten gefördert werden sollen) an die Regierung in Sarajevo.
Da der Kanton Una Sana mit der Stadt Bihac die Hauptlast der Flüchtlingskrise in BiH trägt, haben wir über ein Abgeordnetenbüro bei der EU-Kommission angefragt, wieviel von den Millionen nach Bihac geflossen ist. Die Antwort ist eine Lüge. „Natürlich“ und „insbesondere“ würden EU-Mittel nach Bihac gehen. „Seit Beginn der Krise ist kein einziger Cent von der Regierung in Sarajevo nach Bihac geflossen, um die Stadt zu unterstützen“, sagte erst gestern Bihacs Bürgermeister Surhet Fazlic im Gespräch mit SOS Bihac. Außerdem habe die Kantonalregierung vorgeschlagen, das Lipa-Camp mit vorhandenen Wohncontainern aus dem leerstehenden Bira-Camp winterfest zu machen. Die IOM habe nicht reagiert, so Fazlic.
Seit nunmehr 1 ½ Jahren arbeiten das Aachener Netzwerk und SOS Bihac partnerschaftlich humanitär in Bihac und im Kanton. Das etwa 30 Mitarbeiter starke Team in Bihac arbeitet ehrenamtlich, ebenso die Mitarbeiter in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Die gesamte Hilfe wird durch private Geld- und Sachspenden finanziert. Vollkommen unverständlich ist also, dass sich ausgerechnet der ungarische EU-Kommissar Oliver Varhelyi in seinem Antwortschreiben darauf beruft, das ja humanitäre Nothilfe geleistet werde: „Für diejenigen, die unter ungeeigneten Bedingungen außerhalb der Aufnahmeeinrichtungen übernachten müssen, wird Hilfe geleistet, indem trockene Nahrungsmittel, Schlafsäcke, warme Kleidung und erste Hilfe angeboten werden“. Diese Arbeit wird durch die mobilen Teams von SOS Bihac durchgeführt. Zwar sind auch die IOM und DRC (Danish Refugee Council) mobil unterwegs. „Doch ein Großteil dieser Arbeit wird von unserem Partner SOS Bihac durchgeführt. Wenn die EU-Kommission sich anteilig auf unsere Arbeit beruft, dann sollen sie auch dafür bezahlen. Wir fordern finanzielle Unterstützung für SOS Bihac“, so Helmut Hardy, Vorsitzender des Aachener Netzwerkes für humanitäre Hilfe und interkulturelle Friedensarbeit e.V. Erst vor wenigen Tagen hatte die Lagerleitung des Camps Lipa, das von der millionenschweren IOM geführt wird, erneut unsere Hilfe angefordert. Es fehlten trotz der Millionenzahlungen durch die EU 600 Decken, die SOS Bihac sofort geliefert hat. Entsprechende Bitten um Hilfe seitens der IOM kommen regelmäßig und werden im Sinne der Humanität nach unseren Kräften bedient. Fehlen z.B. Decken, (er-)frieren Menschen.
Offensichtlich kümmert sich die EU-Kommission nicht darum, was mit ihren Geldern geschieht, die an die IOM oder die Regierung in Sarajevo geschickt werden. Das, obwohl man sich auf die Einsetzung eines EU-Koordinators beruft.
„Wenn in diesem Winter Menschen in den Wäldern Bosniens und den Ruinen erfrieren oder an Unterversorgung sterben, dann trägt die EU-Kommission die Schuld“, erklärt der Vorsitzende der bosnischen Hilfsorganisation SOS Bihac, Zlatan Kovacevic. Es könne nicht sein, dass die EU-Kommission die Stadt Bihac auffordere zu handeln und dadurch Leben zu retten. Die Kleinstadt habe alles Erdenkliche getan. Dafür stehe kein Geld mehr zu Verfügung. Das Geld liege in Sarajevo. Es stehe in der Verantwortung der EU, Bihac bei dieser Aufgabe zu helfen. Das werde jedoch nicht getan.
Zu der lebensbedrohlichen Situation der Flüchtlinge in den Wäldern kommen die illegalen Pushbacks durch die kroatische Polizei. Diese werden mit unverminderter Brutalität täglich weitergeführt. Die mobilen Teams von SOS Bihac helfen und dokumentieren rund um die Uhr. Dafür stehen u.a. mehrere geländegängige Fahrzeuge und Transporter zu Verfügung. Seit kurzem steht ein angemietetes Cargo-Lager in Bihac zur Verfügung. Regelmäßig kommen Hilfstransporte aus verschiedenen Europäischen Ländern. SOS Bihac sitzt zudem auf Augenhöhe mit IOM und DRC im Krisenstab des Kantons.

Außerdem versorgt SOS Bihac verarmte bosnische Familien, das Kinderheim Duga und seit kurzem eine weitere Kindereinrichtung in Prijedor in der sogenannten Republika Srpska.
„Seit dem Krieg in Bosnien hat sich ein entscheidender Punkt nicht verändert“, so Dirk Planert, Mitarbeiter des Aachener Netzwerks und SOS Bihac. „In Brüssel schaut man weg. Das planlose Schicken von Geld ist in einem korrupten Land wie Bosnien nicht zielführend. Ganz offensichtlich tun eine Menge Leute ihre Jobs nicht. Das ist mit der europäischen Abschreckungspolitik zu erklären. Die gegen Menschenrechte und EU-Gesetze verstoßende kroatische Grenzpolizei und ihre Knüppel und Drohnen zu finanzieren, sich aber gleichzeitig mit der Finanzierung von Hilfe für genau diese Opfer zu brüsten, das widerspricht jeder Logik und hat mit den europäischen Werten rein gar nichts zu tun.
Wir fordern von der EU-Kommission und dem Mitverantwortlichen ungarischem EU-Kommissar Oliver Varhely:
• Sofortige Beendigung illegaler Pushbacks durch Kroatien und eine sofortige Beendigung der systematischen und organisierten Gewalt und Folter gegen Flüchtlinge durch kroatische Grenzpolizisten. Abschaffung der Spezialeinheit, die auf Gewalt gegen Flüchtlinge „spezialisiert“ ist und Ermittlungen gegen deren Mitglieder die nicht von Kroatien selbst geführt werden dürfen.
• Sofortige finanzielle Unterstützung der Stadt Bihac und des Kanton Una Sana für die Versorgung und Unterbringung von Flüchtlingen
• Die Aufnahme mindestens von besonders schutzbedürftigen Flüchtlingen in der Europäischen Union und deren Verteilung auf verschiedene EU-Staaten, in denen die Menschenrechte eingehalten werden.
• Sofortige finanzielle Unterstützung der humanitären Arbeit von SOS Bihac!

Zlatan Kovacevic, Vorsitzender SOS Bihac
Helmut Hardy, 1. Vorsitzender Aachener Netzwerk
Dirk Planert, SOS Bihac, Koordinator Deutschland
Arye Wachsmuth, SOS Bihac, Koordinator Österreich
Sascha Severa, SOS Bihac, Koordinator Schweiz