Helga Lenz arbeitet bei der Humanistischen Union (HU) Lübeck – die ein Partner des Aachener Netzwerks ist. Sie war Anfang November in Bihać und hat sich dort zusammen mit unserem Mitglied Muhammed Pehlic, der vor Ort wohnt, um Geflüchtete gekümmert, die dort unter zum Teil sehr unwürdigen Bedingungen versuchen, „nach Europa“ zu kommen. Hier ihr Bericht:
Vor mehr als zwei Jahren, begleitete ich die erste Hilfslieferung des Aachener Netzwerks und der Humanistischen Union nach Bihać. Nun komme ich wieder zurück.
Der kroatische Bus überquert die Grenze nicht mehr. Die vier Menschen, die mit mir nach Bosnien wollen, müssen die Grenze zu Fuß überqueren, sich ein Taxi suchen oder sich von Bekannten abholen lassen.
Bei der Suche nach meiner Unterkunft treffe ich Jan, der mir mit seinem Navi weiter hilft. Er interviewt Flüchtlinge, denn als Helfer darf er sich nicht zu erkennen geben. Dann würde er des Landes verwiesen und eine Strafe von 750 Euro zahlen. Die Geflüchteten, die wir in Vor-Corona-Zeiten tagsüber in ihren Behausungen versorgt habe, werden jetzt nach Einbruch der Dunkelheit an Treffpunkten am Stadtrand oder außerhalb der Stadt versorgt.
Die Stadt hat sich verändert. Die verfallenen Ruinen, die Fabrik und das ausgebrannte Hotel am Wasser, in denen immer viele Flüchtlinge Zuflucht fanden, sind umzäunt und abgeriegelt.
Das IOM-Lager ist geräumt, die Hallen stehen leer und die EU-geförderte Unterkunft für Familien in einem ehemaligen Studentenwohnheim soll auch geschlossen werden. Daneben befanden sich in einem Gebüsch von der Größe eines Fußballplatzes Zelte der Geflüchteten. Das Gebiet wurde gerodet, um das wilde Camp zu verhindern.
Mit Muhammed, der mit einer kleinen Gruppe bosnischer Freiwilliger neben seiner Arbeit als Kameramann für das staatliche Fernsehen Geflüchtete versorgt, fahren wir an den Stadtrand. Wir finden die Geflüchteten, versteckt in Gebüschen. Bei Regen und Kälte leben sie in Zelten und Verschlägen. Wir treffen auf 10 Afghanen, denen Schuhe, Jacken, Handys und Geld von der kroatischen Polizei abgenommen wurden. Das Rote Kreuz verteilt Essen, aber keine Bekleidung und Schlafsäcke. Muhammed versorgt sie mit Schuhen und Schlafsäcken. Morgen kommt ein Transport einer spanischen NGO mit Bekleidung an.
In der Stadt gibt es einen kleinen Kiosk, der für die Flüchtlinge als kleines Versorgungszentrum fungiert. Dorthin haben wir auch ein paar Sachen gebracht, die die Geflüchteten, die Muhammed und seine Kollegin angerufen haben, dort abholen können. Auch die Handys werden aufgeladen. Ein gutes System, das auch holprige und steile Wege mit einem Auto erspart – zumal Muhammeds Auto häufig nicht anspringt.
Am Kiosk treffen wir Amid aus Afghanistan, Er ist als Zwölfjähriger geflohen und hat sich nach 5 Jahren erzwungen Wartens in griechischen Flüchtlingslagern wieder auf den Weg gemacht. Jetzt ist er 19 und seine erlernten Qualifikationen sind Warten und Flüchten.
Morgen wollte ich nach Kladuša fahren, wo in 60 Zelten Familien leben (über 200 Menschen, die Hälfte davon Kinder), die wieder versuchen wollen, über die Grenze zu kommen. Aber gerade kommt die Nachricht, dass heute auffällig viel Polizei dort war und das Dschungelcamp geräumt werden soll. In den Bergen beginnt es zu schneien und die Verwaltung hat Angst, dass es Schlagzeilen mit Toten geben kann.
Die Polizei war da, aber die Menschen haben sich in der Nacht in den Bergen versteckt, um nicht nach Sarajevo in ein Camp gebracht zu werden. Von dort aus ist der Weg zurück zur Grenze lang und teuer. Dieses Mal wollte die Ausländerbehörde/Polizei alle in das benachbarte Camp Lipa bringen, aber die politischen Orts-, Landes- und Bundesebenen streiten sich um die Eröffnung des neu aufgebauten Containercamps. Muhammed berichtet, dass bei der letzten Räumung die Menschen in zwei Busse gebracht wurden und auf offener Strecke außerhalb des Kantons aussteigen mussten.
Im nächsten Jahr sind Wahlen auf Kanton- und Bundesebene und die lassen sich nur mit dem Vertreiben der Geflüchteten gewinnen.. Solange der Eröffnungstermin des Camps im Kanton Una Sana weiter verschoben wird, können die Flüchtlinge Richtung Sarajevo gebracht werden. Dann ist der Bund zuständig. Auch innerhalb eines Landes werden Geflüchtete zum Spielball.
Heute haben wir von den Spendengeldern der Humanistischen Union und des Aachener Netzwerkes viel in Bihać eingekauft und verteilt. Medikamente, Schlafsäcke, Schuhe, Unterwäsche und sehr viele Lebensmittel, die auch länger haltbar sind. Eigentlich „erfolgreich“, ohne Behinderung durch Polizei oder Ausländerbehörde, konnten wir ungehindert ausliefern. Wären da nicht die Geschichten am Rande. Wir dürfen nur kurz das Essen, Kleidung und Schlafsäcke liefern, um den Behörden nicht aufzufallen. Aber es reicht, um zu erfahren, dass der ca. 40-jährige Mann mit den traurigen Augen gerade erfahren hat, dass sein Vater und ein weiterer Verwandter von den Taliban umgebracht wurden. Die kroatische Polizei hat ihm sein Handy abgenommen und so kann er nicht einmal Kontakt zu seiner Mutter aufnehmen. Ein gespendetes Handy haben wir noch für ihn.
Wir treffen auch auf einen Pakistani, der trotz seiner fünfjährigen Flucht immer noch Humor hat und verspricht, uns die Fotos seiner Wunden, die die kroatische Polizei zu verantworten hat, zu schicken.
Immer wieder traurig machen einen die jungen Männer, wie die 19- und 15-jährigen Brüder, die seit einem Jahr von Afghanistan nach Europa unterwegs sind.
Eine Familie mit einem Kleinkind und einem Säugling, der in Griechenland geboren ist. Vor zwei Monaten, nach Machtübernahme der Taliban, ist der Asylantrag der Familie abgelehnt worden. Das Schreiben haben sie nicht mehr abgewartet, sondern sind nach Bosnien weitergezogen.
Ein 50-jähriger Afghane, der schon seit fünf Jahren von seiner Familie getrennt ist. Eine Familienzusammenführung wurde von den deutschen Behörden abgelehnt. Beim letzten Pushback wurde sein Rücken verletzt und sein Handy, das einzige Kontaktmittel zur Familie, wurde zerstört. Er war eine Woche im kroatischen Gefängnis, wurde geschlagen und hat jetzt Rückenprobleme.
Nicht die Arbeit entzieht die Kraft, sagt Muhammed, sondern diese einzelnen Schicksale. Das merke ich abends, wenn ich zur Ruhe komme und in die Traurigkeit falle. Dann noch die Nachrichten aus Polen. Es ist ein leiser, und manchmal, wie jetzt in Polen, ein lauter Krieg, der auch schnell wieder in Vergessenheit gerät.
Morgen geht es weiter. Jeden Tag erreichen Muhammed und Amela Hilferufe. Sie bereiten die Sachen im Lager vor, bringen sie zu den Geflüchteten, kümmern sich um Kranke, kommunizieren mit NGOs, damit sie ihr Lager wieder auffüllen können… kaufen ein und werden täglich von Geflüchteten angerufen, die um Hilfe bitten.
Nun können wir doch nach Kladuša, aber es sind auf dem Weg und um das Dschungelcamp auffällig viele Polizisten. In Kladuša dulden die Behörden zumindest die Versorgung der Geflüchteten mit dem Nötigsten durch viele kleine NGOs und Einzelpersonen. 200 Menschen, davon 60 Kinder, leben unter notdürftigen Zeltplanen auf einem zwei Fußballfelder großen Platz mit einem Wasserhahn und versuchen die nahe gelegene Grenze zu überwinden. Die Kinder spielen kroatische Polizei und Flüchtlinge. Heute gibt es Abwechslung mit Lammbraten und Süßigkeiten. Zwei Bosnier kommen mit dem Auto an und fragen, was sie für die Familien kaufen können. Von dem großen EU-Geld für die Versorgung kommt hier kaum etwas an.
Alles ändert sich ständig. Muhammed hat wieder einen Anruf bekommen. 6 Leute sind zurück nach Bosnien gebracht worden. Ohne Schuhe, Schlafsack… In Kladuša wird jetzt doch, dieses Mal „sanft“, geräumt. Familien werden nacheinander aufgefordert, ihren Platz zu räumen und mit nach Bihać in das Familiencamp oder nach Lipa zu fahren. Dort gibt es jetzt Strom und die Bundesbehörde scheint sich durchgesetzt zu haben. Auf einem hohen Berg sollen die Geflüchteten im Wald völlig isoliert leben. Ein kleiner Laden bietet das Nötigste zu doppelt so hohen Preisen wie in Bihać an.
Aber es gibt auch viele kleine, gute Nachrichten bei der Versorgung der Geflüchteten, z.B. diese: Mit einer mobilen Wäscherei wird neuerdings versucht, den in Ruinen und Zelten Lebenden ihre privaten Sachen zu reinigen, damit auch sie wieder ihre persönliche Jacke anziehen können und sie nicht aus hygienischen Gründen entsorgen müssen. Außerdem sollen auch die zurückgelassene Kleidung und Schlafsäcke, die beim Grenzübertritt nicht mitgenommen werden konnte, eingesammelt, gereinigt und neu verteilt werden. Die bosnische Helfergruppe hat aus diesem Fundus schon Schlafsäcke erhalten. Die Reinigungsgebühr ist gering und könnte durch Spenden übernommen werden.
Auch an den EU-Grenzen muss es ein Aufnahmeprogramm für schutzbedürftige Geflüchtete geben. Wir dürfen Geflüchtete nicht jahrelang in menschenunwürdigen und gefährlichen Verhältnissen an den Grenzen oder in Flüchtlingslagern alleine lassen.
Helga Lenz (Hum. Union Lübeck)