Rundbrief 40 – März 2023

Inhalt:

30 Jahre Aachener Netzwerk

Dieser Rundbrief trägt das Datum „24. März 2023“, nicht „März 2023“, wie sonst üblich. Denn heute ist unser Geburtstag. Vor 30 Jahren, am 24.3.1993, wurde unser Verein als „Aachener Netzwerk für humanitäre Hilfe in Bosnien-Herzegowina und Kroatien e.V.“ gegründet. Am 13. Dezember 1997 benannte sich der Verein um und heißt seitdem „Aachener Netzwerk für humanitäre Hilfe und interkulturelle Friedensarbeit e.V.“.

Wir werden uns dem Geburtstag von zwei Seiten annähern: Unser Ehrenvorsitzender Heinz Jussen wird „vorne“ anfangen und unser jetziger Vorsitzender Helmut Hardy wird über die letzten 10 Jahre schreiben. Aber Heinz wird etwas mehr Zeit benötigen, um seine Gedanken zu Papier zu bringen, so dass wir daraus eine Fortsetzungsgeschichte machen. In diesem Rundbrief berichtet er von seinen ersten beiden Hilfsfahrten, die schon vor der offiziellen Vereinsgründung stattfanden.

Nun möchten wir aber nicht nur in alten Zeiten schwelgen, wo (natürlich nicht) alles viel besser war, sondern aus gegebenem Anlass auf zwei EU-Außengrenzen schauen.

Unser Mitglied Dr. Thomas Müller schaut nach Großbritannien. Am 7. März 2023 titelte die Deutsche Welle: „Großbritannien legt Pläne für strengeres Asylrecht vor – Großbritannien will die oft gefährliche Bootsüberfahrten über den Ärmelkanal durch Androhung eines scharfen Asylrechts stoppen.“ Und natürlich wollen sie die Bootsüberfahren nicht stoppen, weil sie gefährlich sind. Sondern sie möchten die Flüchtlinge stoppen – mit sehr fragwürdigen Methoden.

Lennard Everwien von Europe Cares berichtet von der griechischen Insel Lesbos und wie man dort mit Flüchtlingen umgeht, die die ebenfalls gefährliche Passage von der Türkei nach Griechenland geschafft haben.

Ein Schelm, der darin eine Methode erkennt…

Methode haben auf jeden Fall unsere Aktivitäten: Wir kümmern uns um Hilfe in Krisengebieten und um ein friedliches Zusammenleben der Kulturen, der Religionen, der Nationen, kurz: der Menschen.

Der Vorstand des Aachener Netzwerks

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Erinnerungen – 30 Jahre Aachener Netzwerk

Schwer gefallen muss es ihm sein, unserem Ehrenvorsitzenden Heinz Jussen, in alten Erinnerungen zu graben. Eine Fortsetzung folgt – das hat er uns versprochen.

Gut 30 Jahre sind es nun her, dass alles anfing. 30 Jahre engagierten und engagieren sich hier in Aachen Menschen für Frieden, Humanität und interkulturellen Austausch.

Dieses Jubiläum möchte ich zum Anlass nehmen, einige Momente und Gefühle zum Ausdruck zu bringen. Das Punktuelle zur Entstehung und Entwicklung unseres Vereins lässt sich auf unserer Homepage nach­verfolgen, auch im ausführlichen Pressespiegel.

Nun sitze ich hier an meinem Schreibtisch und blättere nochmal nach langer Zeit in dem Tagebuch herum, in dem ich zwischen 1993 und 1995 einige Erlebnisse verfasst hatte. Ja, dieses Versprechen, das ich damals im Herbst 1992 als Lehrer einem kriegstraumatisierten Schüler gab, war der Impuls für den ersten Transport humanitärer Hilfe in die damals von serbischen Verbänden eingeschlossene Stadt Tuzla: „Suad, ich fahre nach Tuzla!“ Ich konnte den damaligen Vorsitzenden des „Clubs Bosna Aachen“, Ismet Jakupovic, als Begleiter für diese erste Fahrt am 26. Dezember 1992 gewinnen. Ein Fahrzeugverleiher aus Walheim stellt uns einen größeren Lieferwagen zur Verfügung.

Nach zermürbenden bürokratischen Befra­gungen und Kontrollen in Split schaffen wir es tatsächlich über die bosnisch-kroatische Grenze nach Posušje zu kommen. Wir sind völlig erschöpft und brauchen dringend eine nächtliche Ruhepause in einer kleinen Pension. Was wir nicht wissen: In diesem Ort, direkt hinter der Grenze, hat sich eine Kriegsmafia etabliert. Vorsichtshalber ziehe ich den Batteriehauptschalter ab.

Am nächsten Morgen entdecken wir, was passiert wäre, wenn ich nicht…. Man hatte versucht die Ladeklappe zu öffnen, was natürlich nur mit dem passenden Schalter möglich war. Da das nicht funktionierte, wurde zunächst die Scheibe eingeschlagen, dann das Armaturenbrett demoliert, um an die entsprechenden Kabel zu kommen. Doch nichts hat funktioniert. Wir hatten Glück.

Wir kommen in Breza, Zentralbosnien, an und können hier pausieren. Hinter Breza verläuft ein Frontabschnitt. Ein Weiterkommen ist hier zur Zeit nicht möglich. Die einzige Chance hier weiterzukommen, so wird uns erklärt, ist ein Tunnel. So machen wir uns am nächsten Tag auf den Weg. Doch dieser Tunnel ist nicht befestigt. Wasser schießt uns entgegen, Felsstücke ragen aus Wänden und Decke. „Da, siehst du da oben, ein Fels!“ Ein Zurück oder Stehenbleiben ist auf Grund der herunter schießenden Wassermassen nicht möglich. Also durch! Das Verdeck wird aufgerissen. Wir kommen durch.

Dann Kladanj. Die Verbindungsstraße nach Tuzla wird von den serbischen Verbänden unter Beschuss gehalten. Tuzla ist eingeschlossen. Ein Durchkommen ist nur nachts durch Wälder und Überdeckung unserer Scheinwerfer mit Pappe möglich. Da kommt ein Soldat hinter einem Baum hervor. Ismet erkennt: ein bosnischer. Er will auch nach Tuzla und kennt sich hier in den Wäldern gut aus. Wir kommen durch. In Tuzla stellen wir unseren LKW direkt bei der Polizei ab und übernachten in einem von Soldaten besetzten Hotel. Am nächsten Tag können wir unsere Hilfsgüter – Medi­ka­men­te, Grundnahrungsmittel und Winter­kleidung – dem von der Regierung eingerichteten logistički centar (Logistisches Zentrum) übergeben. Die Übergabe wird von Kameraleuten des regionalen Fernsehens begleitet. Wir finden Suads Eltern. Fassungslose Freude.

Die Rückfahrt wird weniger problematisch. Und so kommen wir noch vor Jahreswechsel in Aachen an. Geschafft! Das Versprechen war eingelöst. Aber das Erlebte, vor allem die Konfrontation mit sterbenden, hungernden, perspektivlosen, verzweifelten Menschen hatte sich tief in mir eingenistet. Beim Abschied aus einem Waisenhaus sehe ich noch das kleine Mädchen, das von ihren Großeltern etwas Deutsch gelernt hatte, neben mir stehen. Es zupft an meiner Jacke und schaut mich von unten mit großen Augen an: „Du kommen zirick?“ Und wieder purzelt ein Versprechen aus mir heraus: „Ja!“
Nun merke ich, dass dieser Beitrag für den Jubiläumsrundbrief sich doch in zu viele Einzelheiten verliert. Eigentlich soll ja deutlich werden, wie unser Netzwerk entstanden ist. Deshalb versuche ich jetzt, mich kürzer zu fassen.

Für eine zweite Fahrt werden mir von der Schulleitung über die Karnevalstage unter­richtsfreie Tage gegeben. Wir waren vom 19. 2. bis 4. 3.1993 unterwegs.

Aachener Zeitung, 04.03.1993
Aachener Zeitung, 04.03.1993

Durch die Unterstützung des Betriebsleiters der Firma MAN Aachen, Franz-Josef Hansen, können wir kostengünstig einen 9-Tonner LKW kaufen. Eine weitere Firma schenkt uns einen 4-Tonner, den wir später einer Hilfsorganisation in Tuzla zur Verfügung stellen.

Heinz Jussen (Ehrenvorsitzender)

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10 Jahre Aachener Netzwerk – meine Geschichte

Ich übertreibe jetzt etwas, denn es sind noch nicht ganz 10 Jahre.

Im Jahr 2000 bin ich meinen ersten Marathon gelaufen. Und in den Jahren danach, so behaupten es böse Zungen, habe ich es etwas übertrieben. Denn der Marathon war nicht genug, sondern es kamen 6-Stunden-Läufe, 100 km-Läufe, 24-Stunden-Läufe, 100 Meilen-Läufe und Mehrtagesläufe hinzu.
Uns so las ich am 27. Juli 2013 in der Aachener Zeitung von einer total bekloppten Idee: Ein mir vollkommen unbekannter Verein plant einen Lauf von Sarajevo nach Aachen! „Die haben doch keine Ahnung, was das bedeutet“, dachte ich mir und meldete mich bei der Kontaktadresse, einem gewissen Heinz Jussen.
Es gab öfter Projekttreffen bei Heinz im Garten und es war schön zu sehen, wie verschiedene Leute mit unterschiedlichen Kompetenzen nach und nach hinzu kamen und sich einbrachten. Aus der „bekloppten Idee“ wurde ein konkretes Projekt. Immer noch etwas größenwahnsinnig, aber etwas realistischer. Bald gab es ein Logo und eine Homepage. Die Strecke wurde festgelegt und die Etappenorte einzelnen Leuten zugeordnet. Diese Paten knüpften Kontakte in die Orte, sprachen örtliche Lauftreffs an, organisierten die Schlafplätze, …Konni wollte mit seiner rollenden Küche mitfahren, Dagmar und Tom wollten den Lauf filmen, der eine Peter wollte mit seinen Schüler*innen mitlaufen, der andere Peter wollte mit dem Tretroller mitfahren, … – der Lauf entfesselte eine Dynamik, mit der ich nie gerechnet hätte.
Okay, vielleicht doch nicht „ größenwahnsinnig“, aber ziemlich anspruchsvoll. Nein, weitere Herabstufungen wird es nicht geben. Der Lauf war anspruchsvoll und brachte viele Beteiligte an ihre Grenzen. Immer unterwegs, jede Nacht in einer anderen Turnhalle, nie ein Bett, viele ungeplante Herausforderungen.

Flame for Peace – Ankunft im Elisengarten© Andreas Steindl
Flame for Peace – Ankunft im Elisengarten, © Andreas Steindl

Aber am 21. September 2014, dem Welt­friedenstag der UNO, kamen wir in Aachen an und wurden begeistert empfangen.

Anfang 2016 kündigte dann der langjährige Kassenführer (so steht es in unserer Satzung) Ulrich Schiffers an, Aachen verlassen zu wollen – und ich wurde sein Nachfolger.

Ich war in unsere Projekte Bina Mira und Flame for Peace nicht so stark eingebunden, weshalb ich mich (neben der Kasse) um ein paar andere Sachen kümmern konnte. So erschien im Mai 2017 der erste Rundbrief, der seitdem alle zwei Monate erscheint. Im Juli 2017 ging die Homepage online und seit Oktober 2018 hat das Aachener Netzwerk auch ein Logo.

Und einen neuen 1. Vorsitzenden, denn Heinz Jussen wollte nach 25 Jahren im Vorstand langsam „in den Ruhestand“. So wurde ich 1. Vorsitzender, Heinz 2. Vorsitzender und Giana Haass Kassenführerin.

Gemeinsames Kochen und Essen
Gemeinsames Kochen und Essen

Parallel entwickelte sich seit 2015 unsere Flüchtlings­arbeit, zuerst in Aachen. Heike Heinen kochte mit Geflüchteten (und vieles mehr), ich (und mehrere andere) liefen mit Geflüchteten im Wald.

2018 fand Bina Mira in Tuzla statt – wo Heinz Menschen unterwegs auf der Flucht sah. Und meinte „Da müssen wir etwas machen!“

Schwierig…

Aber 2019 konnten wir einen Raum im Aachener Welthaus mieten, AIESEC bot uns drei Praktikantinnen an und beim Bosnischen Kulturverein konnten wir Hilfsgüter sammeln. Aus der schwierigen Idee wurde wieder ein langjähriges Projekt mit Hilfstransporten vorwiegend nach Bosnien, aber auch nach Serbien, Griechenland, Frankreich und in die Ukraine.

Aachener Integrationspreis 2020 für Bina Mira
Aachener Integrationspreis 2020 für Bina Mira

Corona hat unsere Projekte Bina Mira und Flame for Peace (aus)gebremst, aber gleichzeitig machten wir viele Hilfstransporte, unterstützten andere Vereine und Einzel­personen bei ihren Transporten, immer mehr Nicht-Aachener traten unserem Verein bei und unsere Kontakte zu anderen Vereinen wurden immer enger.

Bina Mira
Bina Mira

Neben diesen vielen Kooperations­projekten haben wir 2022 Bina Mira wieder auf­genom­men, und wie: Das ursprünglich für 2020 geplante Bina Mira wurde im April im slovenischen Podcerkev nachgeholt, im September fand die 2022er Ausgabe im bosnischen Višegrad statt.

HEJ
HEJ

Neu ist unser Projekt HEJ – eine Sport- und Kreativ-Werkstatt im bosnischen Busovača. Ein einmaliges Projekt in mehrfacher Hinsicht. Etwas Vergleichbares haben wir nie gemacht, aber etwas Vergleichbares gibt es auch in Bosnien weit und breit nicht. In kürzester Zeit hat Mujo Koluh das Projekt konzipiert, die Räume reservieren lassen, mit den Verantwort­lichen vor Ort gesprochen, die Betreuer enga­giert und und und. Schon nach einem halben Jahr war der „Stundenplan“ gut gefüllt.

Ich bin schon sehr gespannt, wie es weiter geht. Unser Verein ist sicher … einmalig. Ich kenne keinen vergleichbaren.

Helmut Hardy

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Die Vorstände des Aachener Netzwerks von 1993 bis heute

Kein Asyl für Channel migrants

Die Politik Londons gegen die Boots­flüchtlinge im Ärmelkanal

Eine wesentliche Ursache für die inhumane Situation der Geflüchteten in den nord­französischen Camps, aber auch für ihre risikoreiche Passage des Ärmelkanals, ist das Fehlen eines sicheren und legalen Weges für die Einreise nach Großbritannien. Zwar ist es so, dass „legale und sichere Routen“ ein Grundpfeiler der britischen Einwanderungs­politik sind, doch sind diese Routen auf bestimmte Herkunftsländer bzw. Gruppen beschränkt. Für diejenigen, die sich in den Camps auf eine undokumentierte Weiterreise vorbereiten, ein Versteck in einem Lastwagen suchen oder sich auf eine Bootspassage einlassen, bestehen solche legalen und sicheren Wege nicht – und dies, obschon die überwiegende Zahl von ihnen nach bisherigem Recht mit einem positiven Ausgang ihres Asylverfahrens rechnen könnte.

In den vergangenen Jahren gelangte eine zunehmende Zahl von Geflüchteten mit Schlauchbooten nach Großbritannien. Waren es im Jahr 2020 noch unter 10.000, so waren es 2021 etwa 28.000 und 2022 knapp 46.000 Menschen. Gleichzeitig verstärkte die konservative Londoner Regierung ihre Grenz- und Migrationspolitik. So erhöhte sie die finanzielle Förderung für Überwachungs-, Abschreckungs- und Ermittlungsmaßnahmen auf französischem Gebiet, beispielsweise um die weitläufigen Strand- und Dünengebiete zwischen Dunkerque und Boulogne-sur-mer intensiver zu kontrollieren. Zeitweise wurde die Zuständigkeit für die Bekämpfung der small boats dem Militär übertragen. Die Durchführung von Pushbacks auf hoher See wurde erwogen und trainiert, aber schließlich verworfen.

Im April 2022 schloss die britische Regierung ein Abkommen mit Ruanda, um Channel migrants ungeachtet ihrer Herkunft und notfalls gegen ihren Willen dorthin abzuschieben. In Ruanda sollten sie entweder in ihr Herkunftsland zurückkehren, in einen anderen Staat ausreisen oder ein ruandisches Asylverfahren anstrengen können – mit anderen Worten: Sie sollten vom britischen Asylrecht ausgeschlossen sein und sich in einer möglichst großen Distanz zur Grenze befinden. Im Juni 2022 stoppte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte einen ersten Deportationsflug nach Ruanda buchstäblich in letzter Minute. Seither konnte die Regierung keinen weiteren Flug durchführen. Die hält jedoch an dem Abkommen fest und kündigte an, entsprechende Vereinbarungen auch mit anderen Ländern abschließen zu wollen. Innenministerin Suella Braverman beanspruchte für sich, damit einen neuen Weg in der internationalen Flüchtlingspolitik zu beschreiten – ein Weg allerdings, der menschenrechtliche Standards bewusst aufbricht.

Eine häufig genutzte Ablegestelle der Boote:die Slack-Dünen nördlich von Boulogne-sur-meerFoto: Thomas Müller
Eine häufig genutzte Ablegestelle der Boote: die Slack-Dünen nördlich von Boulogne-sur-meer, © Thomas Müller

Wichtig für das Verständnis dieser Politik ist, dass sie in hohem Maße ideologiegetrieben ist. Die Regierung von Premierminister Sunak stützt sich auf den rechten Flügel der Tories, dem u.a. Innenministerin Braverman angehört. Politiker_innen und Medien dieser Ausrichtung haben die Bekämpfung der small boats im Ärmelkanal zu einer Art Nachfolgekampagne des Brexits aufgebaut. Ging es beim Austritt aus der EU aus ihrer Sicht darum, die Souveränität über das eigene Land zurückzuerlangen, so nehmen sie nun für sich in Anspruch, die Souveränität über die Grenze zu erkämpfen. Diese Rhetorik gipfelt im Bild einer abzuwehrenden „Invasion“, so als seien die Schlauchboote der Geflüchteten das gleiche wie die deutschen Kriegsschiffe beider Weltkriege. Anfang 2023 erklärte Sunak die Bekämpfung der small boats zu einer der fünf Prioritäten seiner Regierung, gleichrangig etwa zur Stabilisierung der angeschlagenen Wirtschaft und zur Bekämpfung der Inflation.

Das gemeinsame Lager der HilfsorganisationenFoto: Calais Food Collective
Das gemeinsame Lager der Hilfsorganisationen, © Calais Food Collective

Am 7. März folgte die Vorlage der Illegal Immigration Bill. Sollte der Gesetzentwurf in Kraft treten, würden alle Menschen, die auf small boats nach Großbritannien kommen, als „illegal“ eingestuft werden, was ihnen das Recht verwehrt, in Großbritannien überhaupt Asyl zu beantragen. Dasselbe gilt für Menschen, die auf andere Weise, etwa versteckt in einem Lastwagen, nach Großbritannien einreisen. Der Gesetzentwurf sieht vor, die betroffenen Menschen in ihre Herkunftsländer oder einen sicheren Drittstaat abzuschieben. Letzteres könnte auch Ruanda oder ein anderer Vertragsstaat Großbritanniens im Globalen Süden sein, falls es der Regierung gelingt, mit weiteren Staaten entsprechende Abkommen zu schließen. Vorübergehende Ausnahmen dieser Maßnahme sollen auf unbegleitete, minder­jährige Geflüchtete und auf extrem gefährdete Menschen zutreffen. Alle weiteren Einwände gegen eine Abschiebung könnten erst nach einer erfolgten Rückführung erhoben werden, was bedeuten würde, dass eine Person abgeschoben würden, ohne dass geprüft wurde, ob eine solche Abschiebung die Menschenrechte der betreffenden Person verletzen würde.

Eine weitere Regelung der Illegal Migration Bill ist eine 28-tägige Inhaftierung von Menschen, die laut des Entwurfs als „illegal“ gelten und somit der Abschiebepflicht unterliegen. Der Gesetzentwurf würde zudem die rechtliche Anfechtbarkeit der Abschiebehaft einschränken. Hinzu kommt die Aussetzung des Schutzes vor moderner Sklaverei: Die oben beschriebenen Einschränkungen sollen mit dem geplanten Gesetz auch für Opfer von moderner Sklaverei gelten und würde damit die bisher geltenden Schutzmaßnahmen für Betroffene außer Kraft setzen. Dies dürfte kaum vereinbar mit der Konvention zur Bekämpfung des Menschenhandels sein, die ein rechtlich verbindliches Instrument des Europarats ist, das Großbritannien unterzeichnet hat. Bemerkenswert ist auch, dass die britische Innenministerin nicht – wie sonst üblich – formell bestätigen will, dass das geplante Gesetz aus ihrer Sicht mit der Europäischen Menschenrechtskonvention in Einklang stünde.

Das geplante Gesetz stellt den bislang schwersten Einschnitt in das britische Asylrecht dar. Entsprechend vehement ist die Kritik der linken und liberalen Öffentlichkeit, von NGOs, Jurist*innen, Kirchen und anderen zivilgesell­schaftlichen Akteuren. Auch der UNHCR kritisiert das Vorhaben – wie bereits den Ruanda-Deal – scharf: „Die Gesetzgebung würde, wenn sie verabschiedet wird, auf ein Asylverbot hinauslaufen – das Recht, im Vereinigten Königreich um Flüchtlingsschutz zu ersuchen, würde für diejenigen, die irregulär einreisen, ausgelöscht, ganz gleich, wie zwingend ihr Antrag sein mag.“

Wenige Tage nach Vorlage der Illegal Immigration Bill traf Premierminister Sunak während des 26. französisch-britischen Gipfels mit Emanuel Macron zusammen. Auf dieser Bühne wiederholte er den Anspruch, die Kanalroute zu schließen. Auch wenn geopolitische und ökonomische Themen im Mittelpunkt des Treffens standen, enthält die gemeinsame Abschlusserklärung einige Maßnahmen, die die Situation der Geflüchteten weiter verschlechtern. So kündigte Sunak an, die Finanzierung von Maßnahmen im französischen Hoheitsgebiet auf insgesamt 541 Millionen Euro zu erhöhen (141 Millionen Euro für 2023/24, 191 Millionen Euro für 2024/25 und 209 Millionen Euro für 2025/26). Mit diesen britischen Investitionen soll erstmals die Einrichtung eines Abschiebegefängnisses in Frankreich mitfinanziert werden. Weiterhin soll die Überwachungszone in Nordfrankreich aus­geweitet werden, was durch die Finanzierung von 500 zusätzlichen Sicherheits­kräften in Nordfrankreich ermöglicht werden soll. Zudem soll die Über­wachungsinfrastruktur einschließ­lich Drohnen, Hubschraubern und Flugzeugen weiter aufgerüstet werden. Diese und andere Zusagen setzen meist bestehende Maßnahmen fort, erhöhen jedoch ihren Umfang und ihre Reichweite.

Originaltitel: How people liveFoto: Collective Aid
Originaltitel: How people live, © Collective Aid

Allerdings fehlt ein aus britischer Sicht entscheidender Punkt: Frankreich sagte auch diesmal nicht zu, Bootspassagiere zurück­zunehmen, nachdem diese britisches Hoheits­gebiet erreicht haben. Eine solche Rücknahme­vereinbarung fordert London seit Jahren von Paris. Macron verwies einmal mehr auf die Zuständigkeit der EU, doch auch mit dieser konnte die britische Regierung bislang kein entsprechendes Abkommen aushandeln. Der Gipfel zeigt damit einmal mehr die Grenzen der Migrationspolitik im Ärmelkanal auf.

Für die Menschen in den nordfranzösischen Camps wird es darauf hinauslaufen, dass sie sich – sollte der Gesetzesentwurf in Kraft treten – nach der gefährlichen Passage des Ärmelkanals in einem rechtlichen Niemands­land wiederfinden. Währenddessen wird die konservative Regierung allmählich in den Wahl­kampfmodus wechseln und es ist absehbar, dass sie eine radikale antimigrantische Kampagne führen wird.

Dr. Thomas Müller

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Ein Wandbild lebtFoto: Monika Kuck, Calais, 2016
Ein Wandbild lebt, © Monika Kuck, Calais, 2016

Der britische Künstler Banksy hatte früh ein Statement zur Flüchtlingsfrage in Form eines Graffito in Calais abgegeben. Er betitelte das Bild „Sohn eines Migranten aus Syrien“, denn Steve Jobs Vater war Syrer, der als Politikstudent nach Amerika ging. Das Bild lebt weiter, wird verändert, anderes wird dazu geschrieben und dazu gemalt. Eine moderne Klagemauer.

Lagebericht aus Lesbos

Lennard EverwienSeit den Bränden im Camp Moria ist die Insel in der Ägäis fast komplett aus der öffentlichen Wahr­nehmung ver­schwunden. Lesbos war als Symbol unseres kollektiven Versagens an den Außengrenzen einmal allgemein bekannt, ein Ort an dem der Versuch der Abschreckung so sichtbar war wie kaum anderswo. Seit dem Feuer hat sich die Lage stark verändert. Heute befinden sich auf Lesbos ca. 2.000 geflüchtete Menschen im temporären Lager „Mavrovouni“, die Zahl der New Arrivals hat sich in den letzten 12 Monaten auf ca. 200-300 pro Woche verzehnfacht.

Das Lager Mavrovouni auf Lesbos

Dabei haben vor allem die Pushbacks eine neue Dimension der Brutalität angenommen. Die Küstenwache hat innerhalb des letzten Jahres verdeckt damit begonnen, Menschen, die es auf die Insel schaffen, nach ihrer Landung mit paramilitärischen Trupps abzufangen, sie zu fesseln, zu schlagen und zu durchsuchen, dann in Lieferwagen ohne Nummernschild zu Außenposten an der Küste zu bringen. Von hier werden sie über Nacht auf das offene Meer gebracht und auf Rettungsinseln ausgesetzt. Nur Médecins sans frontières (MSF, Ärzte ohne Grenzen) ist es erlaubt, in Abstimmung mit offiziellen Stellen Einsätze zur medizinischen Nothilfe durchzuführen. So konnten viele illegale Push­backs verhindern werden. Ein Großteil des Anstieges der New Arrivals ist auf die MSF-Mission zurückzuführen.

Eine weitere Entwicklung ist der Bau der gefängnisgleichen „Closed Controlled Access Facility“ im Innern der Insel. Dieses neue „geschlossene“ Lager ist bisher nur über Schotterwege erreichbar und zwei Stunden Fahrtweg von der nächstgelegenen Stadt entfernt. Die Eröffnung ist für Ende des Jahres geplant, mit Verzögerungen ist jedoch zu rechnen: Noch wurde keine Wasserversorgung sichergestellt und eine Evakuierung aus der Region wäre im Fall eines Waldbrandes nicht ohne befestigte Straßen möglich. Für die meisten Hilfsorganisationen auf der Insel bedeutet das neue Lager eine große Unsicherheit, ob sie ihre Arbeit fortsetzen können.

Partner Community in Paréa Lesvos

Als Europe Cares betreiben wir das Community Center Paréa Lesvos und bieten unseren 10 Partnerorganisationen eine Basis für ihre Unterstützungsangebote, wie z.B. NFI-Verteilung, psychosoziale Unterstützung, Sportangebote, Sprachkurse und ein tägliches Mittagessen für die 300 – 500 Besucher am Tag. Es ist das gemeinsame Ziel der Partner Community, eine unabhängige Zivilgesellschaft zu erhalten und Menschen nach ihrer traumatischen Flucht bestmöglich zu unterstützen. Gemeinsam schauen wir mit großer Besorgnis auf den Bau des neuen Lagers, die gewaltsamen Pushbacks, sowie die schwindende Aufmerksamkeit – aber wir sind entschlossen, uns auch in Zukunft für die geflüchteten Menschen einzusetzen, die die Insel erreichen.

Lennard Everwien (Europe Cares)

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