Rundbrief 35 – Juli 2022

Inhalt:

Sommerzeit – Ferienzeit

Die Sommerzeit ist meist eine eher ruhige Zeit. Die politischen Gremien machen generell Pause und auch sonst sind die Leute, mit denen man gerade sprechen möchte, irgendwo unterwegs: im Meer oder auf den Bergen, am Mittelmeer oder in Skandinavien…

Nur „unsere Probleme“ machen keine Pause. Der Klimawandel zeigt sich immer deutlicher und an den Krieg in der Ukraine gewöhnt man sich langsam (traurig, aber so ist es wohl). Vielleicht ist dieser Gewöhnungseffekt daran schuld, dass Corona in den Medien und in unseren Köpfen eine Pause macht – auch wenn die Inzidenz sehr hoch ist.

Leider betrifft diese Gewöhnung auch die Probleme, mit denen sich unser Verein beschäftigt: Wer kennt heute noch die Lage an den Außengrenzen der EU? Wer beschäftigt sich noch mit den Menschen auf der Flucht, die in Calais, in Bosnien, in Griechenland „hängen geblieben“ sind?

Unser Mitglied Thomas Müller berichtet über die Lage der Flüchtenden in Calais und die un­menschlichen Pläne der britischen Regierun­gen(en).

Mit Hilfstransporten haben wir u.a. Kleidung nach Calais und nach Sarajevo gebracht. Ohne diese Unterstützung wären die dortigen Organi­sationen und die Menschen auf der Flucht im wahrsten Sinne hilflos.

Doch vielleicht müssen wir diese Hilfe bald einstellen, auf jeden Fall deutlich einschränken, denn die Stadt Wuppertal entzieht uns die Spendenhalle Cronenberg. Ein schwerer Schlag für uns.

HEJ, dafür läuft es ausgesprochen gut mit unserer Sport- und Kreativ-Werkstatt im bosni­schen Busovača, die den dortigen Kindern und Jugendlichen etwas Perspektive gibt und interkulturelle Zusammenkünfte ermöglicht.

Der Verein „Most za bolje sutra“ ist, wie wir, davon überzeugt, dass wir gemeinsam aus der Geschichte lernen müssen und so zu einem friedlichen Miteinander finden.

Daran arbeiten wir. Gemeinsam. Auch im Sommer.

In diesem Sinne wünschen wir euch einen ruhigen, nicht zu heißen Restsommer!

Der Vorstand des Aachener Netzwerks

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SOS Bihać und Aachener Netzwerk

Unser erster Hilfstransport erreichte SOS Bihać schon vor der offiziellen Gründung. Seitdem arbeiten SOS Bihać und das Aachener Netzwerk sehr erfolgreich zusammen. Dieser Film beleuchtet die Kooperation von SOS Bihać und Aachener Netzwerk.

Das SOS Haus, ein Schwerpunkt des Films, sorgt dafür, dass die humanitäre Arbeit von SOS Bihać langfristig möglich bleibt. Denn wenn auch wenn die Spenden deutlich weniger geworden sind – die Aufgaben sind noch die gleichen: Menschen auf der Flucht bedürfen nach wie vor der Hilfe, genau wie Einheimische, die in Not geraden sind.

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Aus für Spendenhalle Cronenberg?

Vor 7 Jahren wurde die „Spendenhalle Cronen­berg“ von „Willkommen in Cronenberg“ ins Leben gerufen, um Geflüchteten vor Ort zu helfen. Mittlerweile hat sich „Willkommen in Cronenberg“ aufgelöst, aber die „Spendenhalle Cronenberg“ arbeitet weiter. Neben der immer weniger notwendigen Unterstützung hiesiger Geflüchteten wurden auch Wuppertaler Hilfs­organisationen wie die Tafel, das DRK, die Diakonie u.v.m. unterstützt. Zu Zeiten der Flut­katastrophe in der Kohlfurt wurden zahlreiche Spendengüter gesammelt und den Flutopfern zur Verfügung gestellt.

Bart Wolters, der seit Jahren die „Spendenhalle Cronenberg“ ehrenamtlich leitet, meint dazu: „Wir helfen dort, wo es nötig ist. Unser Team ist immer mit Freude dabei.“

Durch die Zusammenarbeit mit dem Aachener Netzwerk, das die Spendenhalle gerne lang­fristig weiter unterstützen möchte, konnten neben der lokalen Hilfe einige internationale Organisationen unterstützt werden. So hatten wir im Juli ein kleines Jubiläum und mittlerweile 10 Transporte von Cronenberg nach Bosnien, Frankreich, Griechenland oder Serbien auf die Reise geschickt. Dort, an den Außengrenzen der Europäischen Union, werden Menschen auf der Flucht vor Krieg und Hunger vor allen Dingen mit Kleidung, Schuhen und Hygiene­produkten unterstützt.

Die Idee, ein Lager für Hilfsgüter zu unter­halten, das für lokale Katastrophen vorbereitet ist, aber quasi „nebenbei“ auch Hilfsbedürftige in anderen Ländern unterstützt, ist total sinnvoll. Denn so ist die Infrastruktur für den „Fall des Falles“ schon da, wird aber permanent gut genutzt.

Leider wird diese Idee in Wuppertal nicht von allen geteilt. Bis Ende des Jahres sollen wir die Spendenhalle geräumt haben. Das wäre das Ende eines wundervollen Projekts. Wir hoffen, dass wir die Stadt Wuppertal überzeugen können, uns die Spendenhalle auch weiterhin zur Verfügung zu stellen.

Bart Wolters und Helmut Hardy

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Lagerraum gesucht

Die Zukunft der „Spendenhalle Cronenberg“ ist ungewiss. Deshalb suchen wir Räume,
– wo wir Sachspenden annehmen können
– wo wir sie sortieren können
– wo wir größere Mengen lagern können
– die wir mit einem LKW anfahren können
– in Aachen
– möglichst kostenlos oder kostengünstig

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HEJ, das ist ja gut geworden

So meinte eines unserer Mitglieder, als er die ersten Fotos von der kleinen Feier sah. Unser Projektleiter Mujo Koluh erzählt mehr:

Drei Monate nach dem Start der Aktivitäten wurde am 22. Juli in unserer Sport- und Kreativ-Werkstatt HEJ zum ersten Mal von den Kindern vorgeführt, was sie in der Zeit gelernt und geübt haben. Es wurde getanzt, rezitiert, gesungen und geschauspielt.

Die Kleidung, die Frisuren und die Schminke passten, genauso wie die geübten Schritte und die Texte! Alle haben sich richtig ins Zeug gelegt und das Wichtigste fehlte auch nicht: Sowohl die Teilnehmenden als auch die Zuschauer hatten richtig Spaß. Unsere Räume waren eigentlich zu klein, um allen Besuchern und Teilnehmern genug Platz zu bieten. Das machte aber keinem etwas aus.

Für den Fleiß und die gelungene Veranstaltung wurden die teilnehmenden Kinder mit einem Freibadbesuch und alle anderen mit einigen Süßigkeiten belohnt. In den anschließenden geselligen Gesprächen mit den Kindern und Eltern habe ich aus erster Hand erfahren, was unser Projekt für die Kinder und auch für die Eltern bedeutet, … nämlich sehr viel! Bestes Beispiel dafür ist die Tatsache, dass es zahl­reiche Kinder gibt, die mehrere Kilometer entfernt wohnen und trotzdem regelmäßig an den Aktivitäten teilnehmen.

Hana Osmancevic

Besonders beeindruckt hat mich die kleine Hana Osmancevic, die in die zweite Klasse geht und oft mehrmals pro Woche alleine mehrere Kilometer aus den Bergen zu HEJ kommt. Das kleine Mädchen habe ich zuhause besucht und mit einem kleinen Geschenk überrascht. Die Anerkennung hat sie sich mehr als verdient.

Auf jeden Fall hat sich mit unserer ersten Veranstaltung erneut gezeigt, dass das HEJ-Projekt sehr gut gedeiht. Nebenbei haben wir auch noch vier neue Pat*innen gewonnen.

Natürlich freuen wir uns über weitere Spenden für unser HEJ-Projekt – und bedanken uns schon jetzt!

Mujo Koluh

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Ein Tag Calais – hin und zurück

Am 15. Juni haben wir fünf Paletten mit Männerkleidung, eine Palette mit Männer­schuhen, zwei BigBags mit Schlafsäcken und Isomatten sowie 10 Kartons mit Hygiene­produkten zu Collective Aid France gebracht.

Nachdem wir am Vortag schon den LKW geholt und beladen hatten, konnte es ohne Ver­zögerung los gehen.

In Aachen auf die Autobahn, ein paar Staus in Belgien, schon waren wir da. Naja, knapp 5 Stunden waren es. Das Entladen ging dafür umso schneller.

Im Schatten lernten wir Alice, Lisa, Meri und Paula kennen. Wir lernten das Lagerhaus kennen und sprachen über weitere Koopera­tions­möglichkeiten. Dann wurde es schon wieder Zeit für die Rückfahrt.

Nicht ganz so viele Staus, dafür ein kleiner Umweg zwecks Tanken, um 20 Uhr konnten wir den LKW wieder abgeben und waren um 21 Uhr wieder zuhause.

Vielen Dank an Bart Wolters und das Team der Spendenhalle Cronenberg für das Sortieren und Verpacken der Hilfsgüter!

Vielen Dank an all die fleißigen Hände von Collective Aid Calais, die beim Ausladen gehol­fen haben! Und sie an die Menschen auf der Flucht verteilen.

Und vielen Dank auch an Detlef Monjean und Monjean Transporte für den LKW.

Helmut Hardy und Ralf Wuppermann

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Aller guten Dinge sind 10!

10 Hilfstransporte in noch nicht mal zwei Jahren! Das ist die Bilanz der Zusammenarbeit zwischen dem Aachener Netzwerk und der Spendenhalle Cronenberg in Wuppertal.

Insgesamt 150 Paletten mit Hilfsgütern, dazu ca. 50 BigBags wortwörtlich „on top“ (oben drauf) haben wir von der Hastener Straße in Cronenberg aus auf die Reise geschickt – ungefähr 50 t Kleidung, Schuhe, Hygiene­material und Schlafsäcke.

Das ist die Zwischenbilanz, die wir am 5. Juli beim Verladen des Transports nach Sarajevo ziehen konnten.

„Unser“ LKW brachte, wie so oft, Fracht vom Balkan nach Deutschland. In diesem Fall zu IKEA nach Dortmund, wobei er sich leicht verspätete. Auf der Rückfahrt sollte er unsere Hilfsgüter nach Süden mitnehmen. Bei seiner Ankunft an der Spendenhalle standen die Paletten schon auf dem Hof.

Von dort aus müssen sie an die Straße gebracht werden. Glücklicherweise half uns wieder der Gabelstapler der benachbarten Firma DGM – Mineralöle dabei, die Paletten auf den LKW zu heben – Danke dafür!

In einer Stunde war alles passiert. 15 Paletten akkurat positioniert, 5 BigBags oben drauf. Kurz danach fuhr der LKW los.

Zum Jubiläum hatten wir auch verschiedene Medienvertreter*innen eingeladen. Das Fern­sehen wurde durch den WDR vertreten, die Printmedien durch die Westdeutsche Zeitung, den Cronenberger Anzeiger und die Cronen­berger Woche.

Wenn das Wetter nach dem Winter wieder wärmer wird, machen sich auch wieder mehr Leute auf den Weg und fliehen vor Krieg, Hunger und Elend. Die Flüchtlingscamps werden wieder stärker belegt und auch in der Stadt Sarajevo trifft man sie wieder vermehrt an. Unsere Partnerorganisation Collective Aid hat es sich zur Aufgabe gemacht, diesen Menschen zu helfen und priorisiert seine Tätigkeiten entsprechend. Ein limitierender Faktor sind die NFIs – non food items – Hilfsgüter wie Kleidung, Schuhe, Schlafsäcke, … – die bekommen sie zum Beispiel durch das Aachener Netzwerk.

Bedingt durch das islamische Opferfest kam der LKW erst eine Woche nach der Abfahrt bei unseren Freunden von Collective Aid in Sarajevo an und wurde dort sofort entladen.

Ketki von Collective Aid schrieb: “Eine unglaubliche Hilfe für uns. Danke dafür! Damit können wir in den nächsten zwei Monaten den Menschen helfen, die unsere Hilfe benötigen.”

Helmut Hardy

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Die Camps in Calais und der Ruanda-Deal der britischen Regierung

Thomas Müller ist „unser Mann für Calais“. Er ist seit Jahren immer wieder vor Ort. Er schreibt:

Im Rahmen der 2016 begonnenen Langzeit­be­obachtung der Migration in der nordfranzösisch-britischen Grenzregion war ich im vergangenen halben Jahr mehrmals in Calais und Dunkerque – hauptsächlich um Recherchen für den Blog Calais.Bordermonitoring.eu durchzuführen. Während dieser Recherchen zeigte sich, wie auch zu erwarten war, ein Fortbestehen der humanitären Krise und des menschenrechts­politischen Ausnahmezustandes, der die Region nunmehr im dritten Jahrzehnt kenn­zeichnet. Obschon die französische Regierung nach einem mehrwöchigen und landesweit beachteten Hungerstreik, den drei französische Aktivisten im Oktober und November 2021 in der größten Calaiser Kirche durchführten, einige Verbesserungen zuge‑­sichert hatte, zeigt sich nun, dass sich die Lage nicht verbessert hat.

Rettungsweste in den Dünen

Die Situation ist weiterhin hochgradig prekär. Allgemein hängt die Versorgung der Menschen in den informellen Zeltcamps hauptsächlich vom Engagement lokaler zivilgesellschaftlicher Akteure ab, darunter unsere Partner­organi­sation Collective Aid. Wie tief die Krise geht, zeigt sich darin, dass selbst lebensnotwendige Güter wie Trinkwasser, Nahrung, Zelte, Schlaf­säcke und Kleidung größtenteils von diesen nichtstaatlichen Infrastrukturen bereit­gestellt werden. Zwar sind weiterhin auch staatlich beauftragte Hilfsorganisationen tätig (teils weil unabhängige Organisationen dies in früheren Jahren gerichtlich erzwungen haben), allerdings sind diese Versorgungsleistungen in mehrerer Hinsicht unzulänglich, denn sie decken nur ein begrenztes engeres Spektrum an Hilfe­leis­tungen ab, sind quantitativ zu gering bemessen, sparen einen Teil der Camps bewusst aus, halten international gängige Standards nicht ein und/oder gehen mit repressiven Maßnahmen wie Zwangsräumungen einher.

Gleichzeitig verbot die Präfektur im Herbst 2020 erstmals allen nicht vom Staat mandatierten Organisationen, in bestimmten Teilen von Calais – faktisch in der Umgebung der Camps – Hilfsgüter zu verteilen. Diese zunächst auf wenige Wochen befristete Maßnahme wird bis heute immer wieder verlängert und den räumlichen Verlagerungen der Camps ange­passt. Sie gilt also nach wie vor und ermöglicht es den Behörden, Verstöße gegen das Hilfe­verbot durch Bußgelder zu ahnden. Auch die in Frankreich geltenden strengen Ausgangs­sperren während der Corona-Pandemie wurden von den Behörden genutzt, um die Tätigkeit der zivilgesellschaftlichen Organisationen – etwa die Suchfahrten von Utopia 56 nach hilfe­bedürftigen Geflüchteten oder die dokumenta­rische Arbeit der Human Rights Observers – zu behindern und durch Bußgelder zu ahnden. Ein französisches Gericht stellte übrigens im Nach­hinein fest, dass diese Praxis rechtswidrig war.

Provisorischer Waschplatz

Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass international geltende Minimalstandards für Flüchtlingslager in diesem Teil der EU nicht gegeben sind. Vielmehr sind die betroffenen Menschen einer feindselig gestalteten Umge­bung ausgesetzt, für deren Aufrechterhaltung Frankreich und Großbritannien hohe personelle und finanzielle Ressourcen mobilisieren.

Eine der gravierendsten Folge dieser Politik ist, dass Camps, in denen mitunter mehrere hundert Menschen in Igluzelten und unter Kunststoffplanen leben, keinen regulären Zugang zu Trinkwasser haben – und gleich­zeitig die zivilgesellschaftlichen Organisationen nicht viel mehr unternehmen können, als eigene Trinkwasserbehälter möglichst nah am Gelände zu platzieren und regelmäßig zu befüllen. Um die Aufstellung solcher Behälter entwickeln sich mitunter groteske Auseinander­setzungen: Im Spätsommer 2021 blockierten die Behörden zweimal die Zufahrt zu einem Camp von etwa 600 bis 700 Menschen am westlichen Rand von Calais durch Felsbrocken, um die Aufstellung und Befüllung eines Trinkwasserbehälters durch das Calais Food Collective zu unterbinden. Der Behälter war außerdem vor und während der Ausein­ander­setzung mehrmals zerstochen worden – nach Angaben von Bewohner*innen durch die Polizei. Berichte über die Sabotage von Wasserbehältern liegen auch für den Sommer dieses Jahres vor, und erneut machen Augenzeug*innen die Polizei verantwortlich.

Durch einen Erdwall und Felsbrocken versperrte Einfahrt

Neben der Versorgungskrise resultiert die prekäre Lage vor allem aus wiederkehrenden Zwangsräumungen und Beschlagnahmungen. In Calais fährt mindestens alle 48 Stunden ein überdimensionierter Tross von Polizei und Gendarmerie von Camp zu Camp: Die betroffenen Menschen weichen, sofern sie nicht überrascht werden, meist freiwillig aus und bringen ihre Zelte und persönlichen Gegen­stände in Sicherheit.

Räumung eines Camps am Krankenhaus von Calais

Was auf dem Gelände zurückbleibt, wird von der Polizei konfisziert und entweder als Müll entsorgt oder zur Abholung in eine Anlaufstelle gebracht, die sich einige Kilometer von den Camps befindet. Äußere Faktoren wie frostiges, stürmisches oder heißes Wetter führen nicht zu einer Aussetzung der Räumungen und Beschlag­nahmungen. Regelmäßig nimmt die Polizei während einer Räumung einzelne Geflüchtete fest, was in einer Abschiebung enden kann. Fährt der Polizeitross zum nächsten Camp, bringen die Bewohner*innen ihre Sachen zurück und errichten das Camp neu, bis sich der entwürdigende Vorgang am nächsten oder übernächsten Tag wiederholt. Die Räumungen verhindern die Errichtung von provisorischen Hütten und die Etablierung fixer Versorgungs­infrastrukturen, sie vernichten Hilfsgüter in großem Umfang und verstoßen zudem gegen Schutzbestimmungen, die das französische Recht eigentlich vorsieht. Systematisch beobachtet werden die Räumungen durch die Human Rights Observers. Diese zählte im Jahr 2020 etwa 1.000 und 2021 etwa 1.200 Räu­mungen. Im laufenden Jahr wurden bereits im Juli rund 1.000 Räumungen dokumentiert.

Im Gesamtjahr 2021 wurden in Calais mindestens ca. 5.800 Zelte/Planen, ca. 2.800 Schlafsäcke/Decken, ca. 630 Rucksäcke/ Taschen, über 200 Matratzen, 99 Fahrräder sowie in 200 Fällen Kleidung und in 21 Fällen Brennholz beschlagnahmt. Nicht eingerechnet sind die in den Camps bei Dunkerque in erheblichem Umfang beschlagnahmten oder zerstörten Güter.

Hinzu kommen physische Maßnahmen, die sich unter dem akademischen Begriff des Umweltrassismus fassen lassen: Camps werden nicht nur in periphere und wenig sichtbare Bereiche der Stadt verdrängt – auch die Topographie solcher Plätze wird massiv verändert. Die Stadtverwaltung von Calais scheint über einen großen Vorrat der schon erwähnten Felsbrocken zu verfügen, die zu Hunderten genutzt werden, um Zufahrten zu Camps zu blockieren, Schlafstätten unbenutz­bar zu machen oder Verteilungsplätze für nichtstaatliche Hilfsgüter zu versperren. Bäume und Buschwerk wurden teils großflächig gerodet, um den Bewohner*innen der Camps ihren Witterungs- und Sichtschutz zu nehmen und es ihnen schwer zu machen, ihre Zelte und Planen zu fixieren. Eine relativ neue Variante dieser Politik ist das Umpflügen ebener Flächen, um ihre Nutzung als Zeltplätze, als Anlaufstellen für humanitäre Hilfe und soziale Interaktion oder einfach nur für das Fußball­spielen zu unterbinden.

Für einen Teil der Menschen ist Nordfrankreich die Zwischenstation für eine Bootspassage des Ärmelkanals, die meist von professionellen Schmugglern angeboten wird. Die Zahl der Passagiere auf der Kanalroute ist in den vergangenen Jahren von knapp 2.000 (2019) auf etwa 8.500 (2020) und etwa 28.500 (2021) angestiegen und liegt in diesem Sommer bereits bei 14.000 Personen (Stand Mitte Juli), wobei die Monate mit den in den Vorjahren meisten Passagen noch bevorstehen. Vor allem in den Herbstmonaten kam es in den vergangenen Jahren zu mehreren tödlichen Havarien, darunter dem Tod von mindestens 27 Passagier*innen am 24. November 2021. In diesem Jahr wurde bislang ein Todesfall auf See bekannt.

Im Schatten der Bootspassagen werden weiterhin auch andere Migrationspfade genutzt, und zwar vor allem das Verstecken in Lastwagen. Zu einem Brennpunkt entwickelte sich dabei das Gewerbegebiet Transmarck bei Calais, das ausschließlich aus Dienstleistern für den Lastkraftverkehr besteht. Von einer starken Polizeipräsenz, Überwachungstechnologie und massiven Zäunen gesichert, befinden sich dort täglich einige tausend Lastwagen. Zugleich befindet sich eines der großen Calaiser Camps mit dem informellen Namen Old Lidl an der Rückseite dieses Gebiets. Dieses Camp, in dem zuletzt meist Geflüchtete aus dem Sudan lebten, war seit Herbst 2021 von allen oben beschriebenen Repressalien betroffen: Zunächst wurde das für Calais geltende Verbot unabhängiger Hilfeleistungen hierhin aus­geweitet (dies war zunächst nicht möglich gewesen, weil das Gelände nicht zum Stadtgebiet von Calais gehört und daher außerhalb des Geltungsbereichs des Verbots lag). Gleichzeitig wurde die Zufahrt durch einen Erdwall, Felsbrocken und einen Graben unpassierbar gemacht. Ein Großteil des Geländes wurde von der Vegetation befreit und schließlich eine viel genutzte Freifläche gepflügt. Ein regulärer Zugang zu Trinkwasser besteht ebenso wenig wie eine Sicherung der teils unmittelbar an den Zelten vorbeiführenden Bahnstrecke Calais – Dunkerque.

Umgepflügtes Gelände des Camps „Old Lidl“ in Calais

Im Gebiet rund um Transmarck, Old Lidl und die Bahnstrecke starben seit vergangenem Herbst fast monatlich Geflüchtete – mehr als an jedem anderen Ort des nordfranzösischen Grenzraums: Am 28. September, 21. Oktober und 20. Dezember 2021 starben zwei Jugend­liche und ein Erwachsener in Transmarck, als sie versuchten, auf Lastwagen zu gelangen. Am 4. November, 28. Februar und 29. Mai wurden drei Geflüchtete auf der nahe gelegenen Bahnstrecke von Zügen erfasst und getötet. Am 11. Mai wurde ein junger Mann in einem stillgelegten Fahrzeug in Transmarck entdeckt. Er hatte sich selbst das Leben genommen.

Die konservative britische Regierung reagierte auf die Zunahme der undokumentierten Einreise mit drastischen, teils jedoch bereits gescheiterten Maßnahmen. Im Vorjahr getroffene Vorbereitungen für Pushbacks auf hoher See wurden im April aufgegeben. Im gleichen Monat übertrug die Regierung die Zuständigkeit für die Bekämpfung der Bootspassagen von der zivilen UK Border Force auf das Militär, brachte mit dem Nationality and Borders Act eines der radikalsten Migrationsgesetze Europas durch das Parlament und schloss ein Abkommen mit Ruanda, um undokumentiert aus der EU nach Großbritannien eingereiste Migrant*innen rückwirkend ab dem 1. Januar dorthin deportieren zu können. Anders als in einigen deutschsprachigen Medien kolportiert, sollen sie dort nicht den Ausgang ihres britischen Asylverfahrens abwarten, sondern auf der Grundlage der neuen Gesetzeslage überhaupt keinen Zugang zum regulären britischen Asylverfahren erhalten, sondern lediglich ein ruandisches Asylverfahren einleiten können. Für einen in Ermangelung eines legalen Weges in einem Schlauchboot nach Großbritannien eingereisten Menschen beispielsweise aus Afghanistan, dem Sudan oder Kurdistan würde dies bedeuten, unabhängig von Herkunft, Nationalität und Lebensentwurf per Oneway-Ticket in das afrikanische Land ausgeflogen zu werden. Die Maßnahme löste einen Proteststurm aus, der weit in die britische Öffentlichkeit hineinreicht, und wurde auf juristischem Wege u.a. durch die in Calais ansässige britische NGO Care4Calais vorläufig unterbunden: Im Juni stoppte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte den ersten Deportationsflug buchstäblich in letzter Minute. Einige Geflüchtete, die zur Vorbereitung ihrer Deportation inhaftiert worden waren, hatten zuvor einen Hungerstreik begonnen, andere hatten öffentlich angekündigt, dass sie sich das Leben nehmen würden. Auch in den nord­französischen Camps löste die Aussicht, nach der riskanten Passage des Ärmelkanals möglicherweise nach Ruanda deportiert zu werden, Angst aus.

Camp in Loon Plage bei Dunkerque

Es ist offen, ob die innenpolitisch angeschlagene Regierung Johnson ihren Ruanda-Plan wie geplant umsetzen wird. Ebenso denkbar ist, dass er sich in eine Reihe heftiger, aber letztlich gescheiterter Ankündi­gungen einreihen wird. In jedem Fall aber verschlechtert die neue britische Gesetzgebung die Lage derjenigen, die es aus Calais nach Großbritannien schaffen. Dies erhöht indirekt auch den Druck auf die Menschen in den Camps und verstetigt die humanitäre Kreise ein weiteres Mal.

Thomas Müller

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Durch Geschichte zu einem besseren Morgen

Der Verein “Most za bolje sutra” („Eine Brücke für ein besseres Morgen“) mit Sitz in Velika Kladusa in Bosnien und Herzegowina hat das Projekt „Durch die Geschichte zu einem besseren Morgen“ gefördert vom Aachener Netzwerk entwickelt sowie erfolgreich durch­geführt.

Die Reise der 20 Schüler*innen der Grund- und Hauptschulen, Abiturient*innen sowie 10 Lehrer*innen aus Velika Kladusa in Bosnien und Herzegowina, die sich täglich ehren­amtlich in den Bereichen Ökologie, Menschenrechte, Überwindung von Stigmata in der Gesellschaft einsetzen, durch die Geschichte von Bosnien und Herzegowina fing am 14. Mai 2022 in den frühen Morgenstunden an.

Tuzla-Tor (Tuzlanksa kapija)

Das erste Geschichtsziel war in der Stadt Tuzla. Dort besuchten die Teilnehmer*innen zuerst den Freiheitsplatz, danach begaben sie sich zu dem Denkmal für die Opfer der Explosion am 25. Mai 1995. Dort erfuhren sie über das schreckliche Ereignis und würdigten die Opfer des Massakers (Masakr na Kapiji) am Tuzla-Tor (Tuzlanksa kapija). Die Kinder, Jugendlichen sowie die Lehrer*innen, die am Projekt teil­nahmen, besuchten im Laufe des Tages den Friedhof Slanja Banja, die Pannonischen Seen und den Stadtpark in Tuzla und lernten dadurch die Geschichte und alle Ereignisse der Stadt Tuzla und die Geheimnisse, die im Pannoni­schen See verborgen sind, kennen.

Gedenkstätte Potocari (Srebrenica)

Nach dem Besuch der Denkmäler in der Stadt Tuzla ging die Reise für die Teilnehmer*innen des Projekts nach Lipnica bei Tuzla. Dabei besuchten sie auf Einladung des Direktors die Grundschule in Lipnica und übergaben den Schüler*innen dieser Schule die gesammelten Spenden an Spielsachen und didaktischen Materialien. Sie setzten Ihre Reise nach Srebrenica fort, wo sie die Grabsteine der ermordeten Bürger Bosniens in der Gedenk­stätte „Potočari“ besuchten und über den Völkermord am 11. Juli 1995, die Versöhnung sowie die Wege zur Vergebung sprachen. Dann setzten sie ihre Reise nach Sarajevo fort.

Am 15. Mai besuchten die Teilnehmer*innen zuerst das Museum „Muzej Jevreja BiH“. Nach dem Besuch des Museums folgten die Aufklärungen in der altorthodoxen Kirche, im Franziskanerkloster und St.-Antonius-Kirche, in der Tekke (Zentrum einer Sufi-Bruderschaft) „Turbe sedam braca“ und sie konnten im Laufe des Tages viel über alle Religionen, Kulturen und Ethnizitäten, die in Bosnien und Herzegowina zusammenleben, erfahren.

Das Projekt war auf zwei Phasen aufgeteilt. Die erste Phase des Projekts beinhaltete die negativen Seiten der Geschichte des Landes, den daraus folgenden Hass sowie die darauf­folgenden Ängste und Traumata. In der zweiten Phase lernten die Kinder und Jugendlichen die Schönheiten der Multikulturalität, Multireligio­sität und die daraus folgende Bereicherung kennen und konnten dazu eine Präsentation ausarbeiten, die sie in den folgenden Tagen in der Schule inszenieren durften.

Die Kirche des Heiligen Antonius von Padua und das Franziskanerkloster in Sarajevo

Das primäre Ziel des Projekts ist die Entwicklung von Empathie, Umgang mit Multikulturalität, Interreligiosität und Erschaf­fung von Solidarität zwischen den Ethnien in Bosnien und Herzegowina. Dies ist dem Verein „Most za bolje sutra“ und der Leiterin des Vereins Frau Zehida Bihorac Odobasic gelun­gen. Die Teilnehmer*innen verbreiten alltäg­lich das Gelernte weiter und agieren als Multiplika­tor*innen, die in Schulen und Gemeinden, durch ehrenamtliche Arbeit, Solidarität, Verständnis und Zusammenhalt lehren. Das Projekt erlangte eine große Aufmerksamkeit in den städtischen Medien sowie eine enorme Anerkennung in Bosnien und Herzegowina.

Hibe Y. Kamilarovska

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Fotoaktion

Wir haben Ende letzten Jahres, quasi als Spin-off der Kunstauktion, hochqualitative Drucke von Fotos bekannter Fotografinnen und Foto­grafen verkauft. Dies möchten wir nun als eigenständige Aktion weiter führen.

Wir möchten die Bilder dort ausstellen, wo man sie sich in Ruhe anschauen kann. In Restaurants, in Warte­zimmern von Ärzt*innen, Zahnärzt*innen, Masseur*innen, Physiothera­peut*innen …

Für die Ausstellenden ist es kostenneutral. Sie bekommen die Bilder für eine Zeit geliehen und legen einen Flyer von uns dazu. Nach dem vereinbarten Zeitraum geben sie die Bilder zurück oder tauschen sie gegen andere.

Alle Bilder stehen online auf unserer Webseite: aachener-netzwerk.de/fotoaktion/.

Wenn Sie Interesse haben, die Bilder auszustellen oder jemanden kennen, der Interesse hat, schicken Sie bitte eine kurze eMail an Kontakt@Aachener-Netzwerk.de.

Michael Dohle und Helmut Hardy

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