Rundbrief 22 – Juli 2020

Inhalt:

Vorwort

Geschafft! Das Rescue Car für Bihać ist da. Mit dieser freudigen Botschaft können wir den ak­tuel­len Rundbrief voller Dank beginnen. Auch wenn Hilfstransporte aktuell schwierig sind, so ist auch schon der nächste in der Vorbereitung. Ralf war für uns spontan in Ludwigshafen und hat bereits eine Palette voll medizinischem Verbands­material abgeholt, das den Einsatz des Rescue Cars hervorragend ergänzen wird. Er gibt uns hier einen kleinen Blick hinter die Kulissen des Helfens durch Anpacken. Das macht auch Andreas: Er hat mit Helga Lenz von der Humanistischen Union Lübeck und dem Dürener Spediteur Detlef Monjean über ihre Unterstützung für unseren Hilfstransport im Februar gesprochen, den beide tatkräftig unter­stützt haben.
Vorab berichten wir noch von einer weiteren Aktion: Für geflüchtete Menschen, denen das Smartphone oft eine lebensnotwendiger Beglei­ter ist, und denen selbiger häufig an den Grenzen abgenommen wird, sammeln wir alte GPS-fähige Smartphones.
Thomas Müller, der bereits in der vergangenen Ausgabe dieses Rundbriefs aus Calais be­rich­tet hat, hat Helmut eingeladen, sich die Arbeit vor Ort anzuschauen: Die beiden berichten uns von ihrem Besuch in Calais.
Bereits im letzten Rundbrief haben wir darauf hingewiesen, dass die Corona-Krise uns als Gesellschaft den Blick auf die Lage im Ausland einschränkt. So haben wir mit Dirk Planert einen der letzten Reporter in Bihać verloren. Auch deshalb bemühen wir uns als Netzwerk mit den Menschen vor Ort in Kontakt zu bleiben, den Austausch zu wahren, Berichte einzuholen. Damit diese uns weiterhin Zeugnis liefern können, werden wir das dortige Filmteam mit einer neuen (gebrauchten) Kamera versorgen. Gegen das Vergessen.
Wir bleiben dran!
In diesem Sinne: Alles Gute und vielen Dank für die Unterstützung!

Björn Niehenke

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Eine Video-Kamera

Bis Anfang 2020 wurde viel über die Probleme der Flüchtlinge in Bihac berichtet. Häufig waren Politiker und internationale Presse vor Ort. Doch mit Corona kamen Einreise­beschrän­kungen und so weniger Beobachter. Umso wichtiger, dass wir selbst für Pressematerial sorgen.
Die Resonanz auf unsere eigenen Filme hat uns noch mal gezeigt, wie wichtig bewegte Bilder sind. Wir möchten deshalb unserem Kameramann vor Ort, Muhammed Pehlic, eine „ordentliche“ Video-Kamera zur Verfügung stellen. Inklusive Zubehör würde diese etwa 5.000 € kosten. Gebraucht kostet sie etwa ein Drittel weniger, ca. 3.500 €.
Wir werden über unsere neue Facebook-Seite einen Spendenaufruf starten – aber natürlich freuen wir uns auch über jede Spende, die auf unserem Konto (IBAN DE21 3905 0000 0000 3170 08) eingeht – egal ob via Facebook oder nicht, egal ob groß oder klein.

Helmut

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Das Rescue Car für Bihac ist da!

Dirk Planert beschrieb im letzten Rundbrief den Bedarf in Bihać nach „einem Transporter, einem kleinen Bus. Da könnten wir auch eine Trage für den Liegend-Transport einbauen.“ Wir haben Anfang Mai daraufhin sofort beschlos­sen, eine Spendenaktion über 15.000 € zu starten. Ungefähr 10.000 € für den Transporter, den Rest für Lebensmittel und Medikamente.
Schon im März und April waren fast 8.000 € zusammen gekommen, so dass wir Mitte Mai schon 12.000 € Spenden beisammen hatten, ein VW-Transporter gekauft werden konnte und sofort zum Einsatz kam.
Auf unserer Homepage unter Videos sowie auf unserer Facebook-Seite unter Videos kann man den Transporter schon sehen – in Aktion mit dem Logo des Aachener Netzwerks!
Der Wagen ist im Einsatz – sowohl für Flüchtlinge als auch für die einheimische Bevölkerung. Denn auch dort gibt es viele Bedürftige, die wir nicht vergessen sollten.

Sascha Severa von SOS Bihać schrieb:
„Die kompletten Anschaffungskosten von 10.000 € für unser Rescue Car wurden vom Aachener Netzwerk finanziert. Dafür möchten wir uns bei allen Spender*innen bedanken. Ohne eure Unterstützung wäre das nicht möglich geworden.
Es ist ein weißer VW T6 geworden. Die hinteren Sitze sind herausnehmbar und somit ist es das perfekte Fahrzeug für unsere täglichen Einsätze. Wir können damit im Notfall mehrere verletzte Menschen aufnehmen, es als ambulante Notfallstation inklusive Krankenliege einsetzen und mehr Lebensmittel und Kleidung laden als bisher. Zusätzlich werden wir das Fahrzeug noch mit einer Ladestation für Handys ausrüsten. Somit können die Geflüch­teten während der Ausgabe von Lebensmitteln und Kleidung ihre Akkus laden. Volle Akkus sind wichtig, um Kontakt mit der Familie halten zu können, aber auch, um zu wissen, wo man ist und um Hilfe anfordern zu können.“

Ende Juni wurde das Spendenziel von 15.000 € erreicht und wir konnten die Aktion erfolgreich abschließen. Wir vom Aachener Netzwerk sind stolz darauf, diesen Meilenstein in der Unterstützung von SOS Bihać geschafft zu haben.

Wir waren dabei nicht alleine – beteiligt war ein Netzwerk von Gruppen, Firmen und Personen. Die Humanistische Union Lübeck und Solingen hilft waren wieder dabei, einige Firmen, viele private Spender*innen. Aus Aachen, ganz Deutschland und sogar aus der Schweiz. Mit Spenden von 20 € bis 2.000 €.
Vielen Dank euch allen!

Helmut

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Smartphones für Bihać

Sascha Severa von SOS Bihać hat mir in seinem Dank für den VW-Transporter mal wieder klar gemacht, wie wichtig Smartphones für die Flüchtlinge sind: für die Kommunikation nach Hause, die Kommunikation untereinander und natürlich auch als Navigationsgerät. Sie sind also im wahrsten Sinne (über-)lebens­wichtig! Und gerade diese Smartphones werden ihnen an der Grenze oft „abgenommen“ oder zerstört.

Smartphone
Unsere Partnerorganisation SOS Bihać schätzt, dass sie im Monat eine dreistellige Zahl an Smartphones für die Flüchtlinge gebrauchen können. Einerseits.
Andererseits gibt es hier viele Leute, die mit jedem neuen Telefonvertrag ein neues Handy bekommen. Manche Schätzungen sagen, dass in deutschen Schubläden 140 Millionen Handys liegen, andere sagen 200 Millionen. Die meis­ten sind wahrscheinlich noch voll funk­tions­tüchtig und navi-fähig.

Deshalb rufen wir nun dazu auf, „alte“ Smart­phones sammeln.
Wichtig ist:
– dass sie funktionieren
– dass Display und Akku intakt sind
– dass ein Ladegerät dabei ist.
Wir werden sie:
– in Aachen sammeln
– auf den Werkszustand zurück setzen
– prüfen
– neu verpacken
– und für den Transport nach Bihać sorgen.

Unterstützt wird diese Aktion neben dem Aachener Netzwerk für humanitäre Hilfe und interkulturelle Friedensarbeit e.V. durch den
BENG e.V./unserAC.de, die Humanistische Union Lübeck, Solingen hilft e.V. sowie durch viele weitere Einzelpersonen in ganz Deutschland.
Die zentrale Sammeladresse ist „Aachener Netzwerk, Im Grüntal 18a, 52066 Aachen“.
Bitte die Smartphones gut verpacken und ausreichend frankieren (oder persönlich vorbei bringen).

Helmut

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Wir und die „Sozialen Medien“

Seit fast einem Jahr sind wir nun „bei Twitter“ – ehrlich gesagt mit mäßigem Erfolg.
Unser neues Mitglied Jennifer kam auf die Idee, eine Facebook-Seite anzulegen. Mit Andreas und Deana fanden sich zwei weitere Facebook-„Profis“, die die Idee unterstützten. Seit 27. April ist unsere Seite nun online und hat nun schon über 400 Abonnenten.
Ganz neu sind wir, dank Anke, auch bei Instagram. Mal sehen, wie das ankommt…

Helmut

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3-D-Tetris in Ludwigshafen

Uli Eisenhofer hat sich beim Aachener Netzwerk gemeldet. Er wohnt in Ludwigshafen und hat eine Palette mit über 20 Kartons im Hof stehen, 2,20 m hoch, ca. 2,5 Kubikmeter. Und die muss da weg!

Sein Problem!? Was haben wir damit zu tun?
In den Kartons ist medizinisches Verbands­material. Jede Menge Wundauflagen, Fixier­binden, Kompressen, Injektions- und Augenpflaster und und und …
Alles steril und original verpackt. Uli hat es irgendwo als Spende organisiert über seine „Connections“. Er ist nämlich ausgebildeter Rettungssanitäter und war ehrenamtlich schon helfend vor Ort in den Flüchtlingscamps in Thessaloniki und Calais.

Connections also. Beziehungen, Verbindungen, Vernetzungen. Das ist es, was unser Netzwerk ausmacht. Man kennt einen, der einen kennt, der dabei hilft … usw. „Ein Netzwerk aufspannen“ eben.

Das hat auch hier geklappt. Das Verbands­material kann Uli zur Zeit nicht selbst in die Notgebiete bringen und ist auf der Suche nach jemand, der das übernehmen kann.
Gesucht und uns, das Aachener Netzwerk, gefunden. Über unsere Facebook-Seite. Hier zeigt sich einmal mehr, dass unsere „Vernetzung im Netz“ besonders effektiv ist: Über unsere Homepage, über WhatsApp, Twittter, Facebook und – ganz neu – Instagram kommen inzwischen viele wichtige Kontakte zustande.

Zurück zur Palette mit Verbandsmaterial. Die muss also weg von Ullis Hof. Möglichst schnell. Und wir können sie gebrauchen. Für die nächste größere Hilfslieferung nach Bihac.

Eine Spedition beauftragen für den Transport einer Palette von Ludwigshafen nach Aachen lohnt sich nicht. Helmut fragt rum über die WhatsApp-Gruppe, ob jemand eine Möglichkeit hat, und ich frage mich, ob mein „gutes altes Arbeitstier“ das schaffen kann: Mein Peugeot Partner, vergleichbar Berlingo oder Kangoo.
Wir rechnen rum, es wird „sportlich“ (Uli), aber komplette Rückbank rausmontieren schafft noch Zusatzplatz, wir versuchen es!

Eben noch bei Uli in Ludwigshafen…

Dienstag, 16. Juni, ich fahre über die A61 von Aachen nach Ludwigshafen, 290 km, dort sehr netter Empfang von Uli und seiner Familie mit frischem Kaffee und Gebäck, und dann geht es los, das „3-D-Tetris“. Uli ist ein wahrer Meister im effektiven Stapeln, ich halte mich da lieber raus; man sieht, dass er weiß, was er da tut. Es geht darum, über 20 Kartons in verschiedenen Größen so in den Kastenwagen zu stapeln, dass möglichst jeder noch so kleine Stauraum ausgenutzt wird. Und siehe da, nach einigem Drehen und Wenden ist die ganze Palette im Partner verschwunden. Und der „Notplatz“ auf dem Beifahrersitz ist sogar noch frei geblieben.
Super, Uli! Und Danke!

Zurück nach Aachen, die ganze Palette wieder ausladen und einen neuen Turm bauen: in Helmuts Garage. Dort steht sie nun und wartet auf den nächsten großen Hilfstransport nach Bihac, der wohl im August losrollen wird.
Vor Ort kann SOS Bihac das Ver­bands­material sicher gut gebrau­chen. Mit dem neuen, durch das Aachener Netzwerk finanzierten VW-Bus als Rettungs­transporter werden verletzte oder erkrankte Flücht­linge, aber auch bedürftige Einhei­mische medizinisch versorgt.

… und jetzt schon in Helmuts Garage in Aachen!

Ralf

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„Zusammenarbeit und gegenseitige Unterstützung sind einfach toll“

Helga Lenz ist Mitglied der Humanistischen Union, Orts­verband Lübeck. Bundesweit hat jeder OV einen eigenen Schwerpunkt. In Lübeck wur­de in den 70er Jahren die Bera­tungsstelle für Frauen, Familien und Jugendliche ge­gründet, um Frauen eine un­ab­hängige Schwangerschaftskonflikt­bera­tung zu ermöglichen – dort ist Helga Lenz haupt­amtlich tätig.
Im Telefoninterview mit Andreas Kossmann beantwortete sie den Freundinnen und Freunden des Aachener Netzwerks einige Fragen:
AK: Was sind die Ursprünge eurer Hilfe in der Flüchtlingsarbeit?
HL: Seit 2005 engagiert sich die Lübecker Humanistische Union besonders für den Schutz von Geflüchteten. Auslöser dafür war die Prozess gegen den Lübecker Kapitän der Kap Anamur der Bootsflüchtlinge rettete und dafür in Sizilien angeklagt wurde.
2015 kamen auf dem Weg nach Skandinavien auch viele Flüchtlinge nach Lübeck. Es bildete sich schnell ein großes Unterstützernetzwerk, das für Übernachtung, Verpflegung und Transfer zu den Fähren nach Skandinavien sorgte. Als die Grenzen geschlossen wurden, organisierte die HU mit Hilfe der Lübecker Flüchtlingshelfer einen Sprinter mit Hilfsgütern, sammelte Geld und fuhr mehrmals nach Idomeni in Griechenland.
Wie sieht die Arbeit konkret aus?
Heute suchen wir Vormünder für unbegleitete minderjährige Geflüchtete. Wir qualifizieren diese und unterstützen sie in der täglichen Arbeit. Daneben bieten wir Beratung und öffentliche Veranstaltungen zu Asylfragen an und unterstützen Menschen mit Flucht­hinter­grund praktisch.
Was verbindet die Humanistische Union Lübeck denn eigentlich mit dem Aachener Netzwerk?
Einerseits lasen wir Berichte des Journalisten Dirk Planert, der die menschenunwürdigen Verhältnisse an der Bosnisch-Kroatischen Grenze schilderte und zur Unterstützung aufrief. Anderseits gab es über einen Freund persönliche Kontakt zu Helmut Hardy vom Aachener Netzwerk, die auch Geflüchtete in Bosnien unterstützen wollten.
Wie ging es dann weiter?
Zum ersten Transport des Aachener Netzwerks nach Bosnien haben wir Geldspenden gesammelt und beigetragen. Für den zweiten Transport haben wir Kleidung und weitere Geldspenden gesammelt. Die norwegische Ausrüsterfirma Bergans stellte zudem Jacken für Flüchtlinge zur Verfügung – die wir in Norderstedt abholen sollten. So brachten wir unser Material zuerst mit einem Auto von StattAuto Lübeck nach Norderstedt, von wo es dann zusammen mit den Jacken durch die Spedition „Post Nord“ nach Aachen gebracht wurde. Den Kontakt zu „Post Nord“ hatte ein Vormund aus dem Projekt für unbegleitete Minderjährige vermittelt.
Es sind Netzwerke und wahre Zufälle, die da zusammenkommen, und es klappt wirklich hervorragend, denn es sind alles engagierte Menschen, die im richtigen Moment da sind.
Eine alte Fabrik

Hilfe für eine einheimische Roma-Familie

Du warst aber auch selbst in Bihac vor Ort…
Ja, ich wollte auch die „Perspektive“ von der anderen Seite kennenlernen. Eine Woche war ich mit Dirk, Zlatan und den anderen in Bihac unterwegs. Die Eindrücke waren nicht immer schön, aber bereichernd – ich werde sie nie vergessen.
Helmut Hardy ermunterte mich, ein Tagebuch zu schreiben, welches tagesaktuell online gestellt wurde und nach wie vor unter http://humanistische-union-luebeck.de/bihac nachgelesen werden kann.

Ein Fazit?
Die Zusammenarbeit mit dem Aachener Netzwerk ist einfach toll. Es ist ein gegen­seitiger Austausch, der einfach fabelhaft ist. Eine Ergänzung, die mir persönlich Glück und Freude gibt. Es gibt so viele nette Engagierte.

Nähere Informationen zur Humanistischen Union Ortsverband Lübeck findet man unter www.humanistische-union-luebeck.de.

Die Fragen stellte Andreas Kossmann.

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Spontane Hilfe für SOS Bihać

Am 29. Juni kam ein Hilferuf aus Bihać:
„Wir haben kein Geld mehr. Wir brauchen Geld für Mehl, Essen für Freiwillige. Ich habe schon privates Geld ausgegeben – jetzt fehlen 40 €, um den Strom zu bezahlen. Kann jemand helfen?“
Spontan haben wir am gleichen Tag
2.000 € nach Bihać überwiesen – und Solingen hilft hat auch noch mal 2.000 € drauf getan.

Helmut

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„Hätten gerne mehr erfahren“

Detlef Monjean von der Dürener „Monjean Trans­porte GmbH & Co. KG“ und seine Frau Corinne Keruzec übernahmen im Fe­bru­ar 2020 den Hilfs­transport nach Bihac – im Interview erzählt Detlef Mon­jean, der das Unter­nehmen zu­sammen mit sei­nem Bruder Michael leitet, von den Erleb­nissen unterwegs und am Ziel.
AK: Wie war Ihre Fahrt des Hilfstransporters nach Bosnien?
DM: Nach der Beladung in Aachen sind wir von dort zunächst zum Zoll, was beides reibungslos ablief. Allerdings mussten meine Frau und ich direkt zu Beginn unsere Pläne ändern und sind erst montags, 10. Februar, statt sonntagabends losgefahren. Es war das Wochenende mit dem sehr starken Sturm „Sabine“. In Düren sind wir auf die Autobahn aufgefahren und vor der nächsten Ausfahrt bei Kerpen direkt wieder abgefahren, da überall umliegende Bäume den Weg säumten. Wir sind dann weiter über Land gefahren, eigentlich sehr unspektakulär. Für mich als Transportunternehmer keine große Aufregung. Ungewöhnlich für uns war aber, dass es an der bosnischen Grenze eine Ver­zollung gab, was man ja eigentlich in Europa nicht mehr kennt.


Wie muss man sich das vorstellen?
Bei der Einfahrt von Kroatien nach Bosnien erstmals wieder mit einem Fahrzeug richtig kontrolliert zu werden, war schon aufregend. Dabei wussten wir beim Warten nicht, ob uns Dirk Planert an der Grenze em­pfängt. Ich bekam seine Nachricht, dass ich mich melden solle, wenn wir bei der Ver­zollung an­gekommen sind. Gleichzeitig kam von Helmut Hardy die Nachricht, dass ich bei der Einfahrt nicht zum abgesprochenen Spedi­teur sondern zu einem anderen Spe­diteur gehen sollte – den Namen weiß ich nicht mehr. Beide Spediteure saßen im Flur genau gegenüber und deutsche Fahrzeuge sind dort eher selten. Eine Elvira wurde mir dann zugeordnet, die mich darauf verwies für zwei bis drei Stunden Kaffee trinken zu gehen, sie wisse über alles Bescheid und ich bräuchte nichts zu bezahlen.

Entladen in Bihac

Das klingt durchaus alles sehr spannend…
Ja, das fand ich auch ein bisschen komisch, obwohl irgendwann später sagte mir jemand „das ist Balkan, da bist du nicht mehr mitten in Europa“. Ungewohnt fanden wir auch, dass in den Büros überall geraucht wurde, eine Ziga­rette nach der anderen. Während wir warteten kamen Dirk und Zlatan beim Zoll an und Dirk fragte mich, ob ich das Geld für die Verzollung hätte. 1.600 Euro sollte ich dabei haben, davon wusste ich aber nichts. Auch Helmut Hardy wusste nichts davon, dass der Betrag bar mitzuführen sei und ich sollte es dann vorstrecken. Allerdings wurde dann auch die Suche nach einem Geldautomat noch einmal spannend. Dirk Planert fuhr mich zu einer Tankstelle in Bosnien, am dortigen Geldautomat funktionierten aber meine Karten überhaupt nicht. Dirk zog dann das Geld mit seiner Karte, ich wusste auch nicht, warum ich das zunächst machen sollte.

Das Geld musste in einem zugeklebtem Briefumschlag an den Spediteur beziehungs­weise dieser Elvira vom Verzoller wo ich eigentlich nicht hingehen sollte, übergeben werden und die Quittung sollte später folgen. Dieses Erlebnis am bosnischen Zoll war irgendwie die bemerkenswerteste Episode unserer Fahrt. Bei der Ausreise aus Kroatien wurden nur die Frachtbriefe „Humanitäre Güter“, unsere Papiere und das Fahrzeug kontrolliert. Die europäische Ausfuhr war ja bereits beim Zoll in Aachen erledigt. In Bosnien wurden zwei bis drei Kartons andeutungsweise angeschaut, mehr ein Müssen als ein Wollen, dann wechselten noch Zigaretten den Besitzer und danach konnten wir weiterfahren. Die Zollabfertigung zwischen Kroatien und Bosnien hat mit allem Drum und Dran drei bis vier Stunden gedauert.

Und dann wurde der Transport in Bihac empfangen?
Nach nur zehn bis 15 Minuten kamen wir in eine Wohn­siedlung vor Bihac. Über die Hebe­bühne wurde hier mit einem Hub­wa­gen entsprechend ab­geladen und die Hilfsgüter in ein Lager gebracht. Das wurde auch in einem Video festgehalten. Zlatan, Dirk und zwei junge Frauen halfen uns hier. Es gab viel Lob wie gut und sauber die Hilfsgüter verpackt waren. Man konnte Dirk durchaus an­sehen, dass er auch schon mal von anderen Ware bekommen hatte, die wohl mehr zum Entsorgen war.

Haben Sie denn vor Ort auch einiges über die Leute erfahren kön­nen?
Wir gingen im Anschluss zu einem gemeinsamen Essen in einem Restaurant, wieder ungewohnt mit Zigaretten und extrem lauter Musik. Diese gab uns keine Mög­lichkeit der Kommuni­kation. Das war für uns sehr schade, wir hätten gerne einiges Interessantes von den Leuten erfahren. Super klasse engagiert war auch Helga Lenz aus Lübeck, sie übernahm während ihrer wohl einwöchigen Anwesenheit die Belieferung der Leute.
Danach sind wir zu zwei „Spots“ gefahren, wie Dirk Planert es nannte, darunter ein im Krieg zerbombtes Haus mit sieben bis acht Leuten, hier haben wir Jacken, Hosen, Schuhe und Decken verteilt und Dirk hatte noch Kisten mit Lebensmitteln dabei. Mit den Leuten im Haus wollte ich nicht tauschen und ich bin auch nicht hinein gegangen, das passte für mich nicht. Wir kamen mit rund zehn Leuten dort an, das wäre zu überfallartig gewesen.
Wir möchten gerne helfen und deshalb haben wir auch den Transport übernommen. In Düren repariere ich für Menschen aus verschiedenen Ländern Fahrräder, meine Frau hilft Leuten zum Arzt oder zum Amt zu gehen und so weiter. Natürlich war es auch ein bisschen Neugierde zu sehen, wie es Flüchtlingen auf ihrem Weg ergeht. Daher ist es auch ärgerlich, dass es unmöglich war, sich im Restaurant zu unter­halten. Dieses zer­bombte Haus lag direkt an einem Grenzfluss und man konnte Kroatien von hier aus sehen.
Der zweite „Spot“ war nur einige hundert Meter von dort entfernt. Es war die Baracke eines Fußball­platzes, wo auch einige Leute lebten. Auch diese Menschen wurden entsprechend ausgestattet. Hier hatte Dirk noch einen Ofen dabei, damit kein offenes Feuer mehr gemacht werden sollte. Auch dieser war vom Aachener Netzwerk bezahlt worden. Hier waren wir noch näher am Fluss dran, die vermeintliche Freiheit zum Greifen nah. Dieser Fluss von schätzungs­weise 15 Metern Breite sollte normal ja kein Hindernis sein, aber die Grenzen werden mit Wärmebildkameras abgeflogen und dadurch ist man sehr genau informiert, wenn die Leute flüchten wollen. So wurde es mir zumindest erzählt. Leute aus den „Spots“ sind kurz davor über die Grenze zu gehen. Dirk und die Flüchtlinge nannten das „Game“ oder „gaming“. Für mich scheinen diese Begriffe etwas makaber. Vielleicht muss man etwas länger vor Ort sein, um das genauso zu sehen oder sagen zu können!?
Wie lange war denn Ihr Aufenthalt in Bosnien?
Wir sind am selben Abend noch zurück gefahren, da ging der Spießrutenlauf aber erst richtig los. Das Auto wurde beim Grenzübertritt zwei Mal gefilzt. Auf und unter der Ladefläche und in der Kabine, ob irgendwo Flüchtlinge im Transporter wären. Das war bei allen LKWs so, also nicht nur speziell bei uns. Schon die Ein­reise nach Kroatien dauerte erneut zwei­ein­halb Stunden, beide Länder haben akri­bisch kontrol­liert. Mit Wärmebildkameras und irgend­welchen Gasmessern. Obwohl ein leeres Fahrzeug eigentlich übersichtlich ist. Dieses wurde auch gewogen und es wurde diskutiert.
Über welche Strecke sind Sie denn gefahren?
Wir sind über Passau nach Österreich, an Graz vorbei, über Slowenien und Kroatien nach Bosnien gefahren. Wir haben keine Zwischenübernachtung gemacht, es gab nur einen kurzen Schlaf in Österreich in der LKW-Kabine. Da hatte uns der Schnee zu einer Pause gezwungen, ansonsten verlief die Rückfahrt bis auf die Grenzübertritte problem­los.
Über unsere fleißigen Helfer kann man sich im Internet auf www.monjean-transporte.com bzw. www.facebook.com/Monjean-Transporte informieren.

Die Fragen stellte Andreas Kossmann.

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Calais nach dem Lockdown

Ich kenne den Jungle von Calais seit 2016. Damals war es die Bezeichnung für eine Zelt- und Barackensiedlung von Geflüchteten, die monatlich um rund 1.000 Personen anwuchs und auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung über zehntausend Menschen beherbergte. Der Jungle ähnelte damals dem, was Moria später wurde. Er war der Ort, an dem sich Geflüchtete auf ihrem Weg nach Großbritannien vor stark befestigten Grenzanlagen stranden. Diese Anlagen wurden im Rahmen zwischen­staat­licher Abkommen von Großbritannien auf französischem Gebiet erreichtet, sodass wir es hier mit einer Form externalisierter Grenzüber­wachung zu tun haben – ähnlich der Außen­grenzpolitik der EU.

Als ich den Jungle kennenlernte, war er ein Ort extremer materieller Not, physischer und psychischer Verletzung sowie immanenter Gewalt. Aber das war nicht alles, denn er besaß zugleich eine informelle Infrastruktur aus Geschäften, Restaurants, Schulen, Treff­punkten, Moscheen, Kirchen, Kulturstätten und anderen Institutionen, die ihn zu einem auf eine prekäre und ambivalente Weise würdigen Ort werden ließen. Umgeben und durchzogen wurde er außerdem von einem Netz zivilgesellschaftlicher Initiativen wie etwa Auberge des Migrants, Utopia 56, Care4Calais und vielen anderen, die fast vollständig von Freiwilligen und Aktivisten aus Nordfrankreich, Großbritannien, Belgien und anderen Ländern getragen wurden.

Wer Calais 2020 besucht, findet einen anderen Jungle vor. Denn nach der vollständigen Räumung und Zerstörung der Hüttensiedlung im Oktober 2016 stranden zwar weiterhin Geflüchtete in Calais, harren oftmals über viele Monate aus und suchen nach einer Chance, nach Großbritannien weiterzukommen. Doch die Infrastrukturen des alten Jungle fehlen nun völlig. Vielmehr leben die Menschen in ausge­musterten Campingzelten auf Brachflächen, in Gebüschen, teils sogar auf den Schottern eines Eisenbahngleises und den Asphaltflächen stillgelegter Tankstellen in einem Gewerbe­gebiet am Rand von Calais, dem winterlichen Frost und den starken Küstenwinden ausge­setzt. Ungefähr jeden zweiten Tag, meist früh am Morgen, werden sie durch die französische Polizei geräumt. Dies geht zuweilen mit Gewalt, Zerstörung von Zelten und Wegnahme des persönlichen Besitzes einher. Meist jedoch tragen die Geflüchteten ihre Zelte vor der Polizei weg und deponieren sie auf der Straße, um sie anschließend wieder aufzustellen. Die Absurdität dieses Rituals, das mehrere Stunden dauert und u.a. Schlafentzug bewirkt, sym­bo­li­siert die Lage der Geflüchteten in Calais wie kaum etwas anderes. „Es ist verrückt, es ist unmenschlich, es funktioniert nicht, aber es wird so weitergehen“, so eine lokale Aktivistin.

Anfang Juni war ich wieder in Calais, diesmal gemeinsam mit Helmut Hardy. Nach wie vor leben dort unter diesen Bedingungen etwa 1.100 Menschen, genauso viel wie vor dem Lockdown. Während der Pandemie waren die Räumungen unverändert weitergegangen. Hygieneauflagen waren den Bewohner_innen mitgeteilt worden, während die Versorgung mit Trinkwasser, warmen Mahlzeiten und sauberer Kleidung ganz oder teilweise wegbrach. Fünf Verdachtsfälle auf Covid-19 wurden registriert und ein paar Hundert Geflüchtete gingen im April freiwillig in improvisierte Unterkünfte, kehrten meist jedoch nach kurzer Zeit wieder zurück. Während die zunächst befürchtete Aus­breitung des Virus im Jungle vermutlich nicht eingetreten ist, verschlechterten sich die Lebensbedingungen massiv, zeitweise bis hin zum Hunger. Gleichzeitig schlossen die Behörden ein Wald- und Buschgelände, über das sich ein Teil des Jungle erstreckt hatte, sodass am Ende des Lockdown viel mehr Zelte auf Asphalt, Schotter und Beton standen als zu seinem Beginn.

Die Grundversorgung während des Lockdown lag vor allem in der Hand zivilgesellschaftlicher Initiativen wie Auberge des Migrants und Utopia 56. Diese kompensierten den Wegfall warmer Mahlzeiten durch die Verteilung von Lebensmitteln und Feuerholz zum Kochen. Ihre übrigen Aktivitäten wie das regelmäßige Anfahren der unterschiedlichen Camps, die Hilfe für besonders vulnerable Personen, die Bereitstellung von WLAN und Informationen oder auch die Dokumentation der Menschen­rechtslage setzten sie fort.

Thomas Müller

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Mein erstes Mal

Thomas war schon oft in Calais – für mich war es das erste Mal. Und es war beeindruckend. Beeindruckend in mehrerer Hinsicht.
Es fing an auf der Autobahn in Belgien, wo die LKW-Parkplätze auf den Raststätten Richtung Calais mit hohen Zäunen und Nato-Draht gesichert waren, damit sich niemand unbemerkt in den LKWs verstecken kann.
Es ging weiter an den Straßen von Calais, die teilweise genauso verrammelt waren, und mich an die ehemalige Zonengrenze erinnerten. (Ja, so alt bin ich schon.)
Dann die Zelte, in Zweierreihen, direkt an der Straße, dicht an dicht. Ihre Bewohner, mit weißen Plastikkanistern auf dem Weg zu einer Wasserstelle, nicht viel mehr als ein Hydrant, ein paar Dixi-Klos direkt daneben.
Während wir auf François von der Auberge des Migrants warteten, kamen wir mit mehreren Helfern von anderen Gruppen ins Gespräch. Einer davon war schon mehrfach in Bihac, kannte Slatan, Dirk und Aladin.
Unter den Vordächern der eigentlichen Lagerhalle der Auberge des Migrants waren Lebensmittel angeliefert worden: Mehl, Orangensaft und vieles andere – jeweils eine Palette.
In der Lagerhalle eine Küche, die leider Corona-bedingt geschlossen war, aber in der nächsten Woche wieder in Betrieb genommen werden sollte.
Im nächsten Abschnitt der Halle lagerten weitere Lebensmittel. Daneben wurden sie in kleinere Beutel verpackt, fertig zum Verteilen.

Vom hinteren Bereich der Halle kam man wieder nach draußen, wo zwei HelferInnen Holz hackten. Zwei weitere Freiwillige verpackten dieses Holz im Inneren in kleinere Tüten. Anscheinend wurde es dabei auch gewogen, denn auf einer Tafel standen die Monatszahlen – mal über, mal unter 50.000 kg. Wow!

François fuhr dann mit Thomas und mir zu einer zweiten Halle. Hier wurden Kleidung, Schuhe, Zelte, Schlafsäcke etc. gelagert. Zum Teil in Corona-bedingter Quarantäne! Auf einer Box, die ich auf einen Kubikmeter schätzen würde, stand „Trainers 40“ (Turnschuhe Gr. 40).


Wie viele von unseren Hilfstransporten würde es wohl brauchen, diese Halle zu füllen?

Helmut

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